Konjunktiv 2: Schein und Sein

konjunktiv Wie man im Deutschen mit der Wäre-Form und anderen Mitteln Sein von Schein trennt.
Dauer: 38 Minuten.

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Video veröffentlicht am 13.10.2010 (44.89 MB).

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Wie kann man im Deutschen aus­drücken, ob et­was nur zu sein scheint oder tat­säch­lich so ist, wie es aus­sieht?

Es fällt einem auf An­hieb das Wort­pär­chen an­schei­nend/schein­bar ein, aber wie ist es mit so ge­läu­fi­gen Wen­dun­gen wie Es sieht so aus …, Es scheint …, Es er­weckt den Ein­druck …? Für solche Ein­lei­tun­gen be­sitzt das Deut­sche An­schlüs­se, mit de­nen man prä­zise for­mu­lie­ren kann, ob die Aus­sage wirk­lich (Realis), mög­lich (Poten­tia­lis) oder hypo­the­tisch und un­wahr (Ir­rea­lis) ist.

Aussagemodus und Verbalmodus

Wenn die Grammatik über Sein und Schein spricht oder über Wirk­lich­keit, Mög­lich­keit und Un­wirk­lich­keit, dann ver­wen­det sie Aus­sage­modi.

Ist die in einer Aus­sage geschilderte Handlung wirk­lich, dann nennt man dies Realis:

  • Am Morgen stand er auf und kochte Kaffee.

Beschreibt die Aus­sage et­was, was nicht tat­säch­lich statt­ge­fun­den hat, also hypo­the­tisch ist, dann spricht man von Ir­rea­lis:

  • Wenn du doch hier wärest! [Du bist es aber nicht.]
  • Das hätten Sie wohl gerne! [Sie bekommen es aber nicht.]
  • Sie hatten sich schein­bar nichts zu sagen! [Aber das sah nur so aus.]

Schwankt die Aus­sage ausdrücklich zwischen diesen bei­den Ex­tre­men, dem Rea­lis und dem Ir­rea­lis, dann spricht man von Poten­tia­lis. Der teilt mit, daß man et­was für möglich oder wahr­schein­lich hält, sich aber nicht ganz si­cher ist:

  • Er dürfte wohl gleich kommen.
  • Dann wird es so sein.
  • Jemand könnte einwenden …

Potential ist eine Aussage nur, wenn sie ausdrücklich mög­lich ist. Ir­real ist sie wenn sie aus­drück­lich nicht wahr oder nicht wirk­lich ist. Ist diese Aus­drück­lich­keit nicht ge­ge­ben, ist die Aus­sage auto­ma­tisch Rea­lis. Er ist der Aus­sagemodus per default.

Es gibt viele Wege, eine Aus­sage in die Modi Poten­tia­lis oder Ir­rea­lis zu set­zen, zum Bei­spiel durch Ad­ver­bien wie wohl oder schein­bar, vor allem aber mit Hilfe der Ver­bal­modi. Das Deut­sche kennt vier Ver­bal­modi: Indi­ka­tiv, Kon­junk­tiv 1 und Kon­junk­tiv 2 und Im­pera­tiv. Der Verbal­modus ver­hält sich zum Aus­sage­modus wie das Werk­zeug zum Inhalt oder wie der Weg zum Ziel.

Der Indikativ er sieht ist der Normalfall. Er schildert reale Aus­sagen. Eben­so der Im­pera­tiv als Be­fehls­form und der Kon­junk­tiv 1. Der Kon­junk­tiv 1Tutorial: Konjunktiv 1 trifft kei­ne Aus­sage darüber, ob der In­halt der Aus­sage wahr oder un­wahr ist; er markiert die Aus­sage ledig­lich als in­halt­lich ab­hän­gig, also als Aus­sage eines ande­ren.

Der Konjunktiv 2 hat dagegen eine ganz ande­re Auf­gabe. Ent­hält eine Aus­sage den Kon­junk­tiv 2, ist sie im­mer ir­real.

In dieser Aufgabenverteilung zwischen Kon­junk­tiv 1 und Kon­junk­tiv 2 liegt übri­gens der Grund, wa­rum die­ser in der ge­spro­che­nen Spra­che oft vor­kommt, jener aber so gut wie nie. In­halt­liche Ab­hängig­keit wird be­reits durch das ein­leiten­de Verb deut­lich, so daß man den Kon­junk­tiv 1 auch durch den In­di­ka­tiv er­set­zen kann:

  • Geschrieben: Er sagte, er komme gleich.
  • Gesprochen: Er sagte, er kommt gleich.

Der Konjunktiv 1 kommt also nur im Schrift­deut­schen und nur in Neben­sät­zen vor, der ir­reale Kon­junk­tiv 2 auch im ge­sprochen Deutsch und da­bei so­wohl in Haupt- als auch in Ne­ben­sät­zen:

  • Wenn du etwas gesagt hättest, hätte ich dir geholfen.

Der Poten­tia­lis dagegen kann im Deutschen — im Gegen­satz zum La­tei­ni­schen! — nicht mit einem Ver­bal­modus erzielt wer­den, son­dern nur durch Modal­ver­ben und Modal­parti­keln:

  • Er wird wohl gleich kommen.
  • Das dürfte stimmen.
  • Das stimmt wahrscheinlich.

Anscheinend und scheinbar

Am ein­fach­sten kann man einen Rea­lis in einen Poten­tia­lis oder Ir­rea­lis ver­wan­deln, in­dem man die Ad­ver­bien anschei­nend oder schein­bar ein­setzt.

  • Realis: Sie führen eine gute Ehe.
  • Potentialis: Anschei­nend führen sie eine gute Ehe.
  • Irrealis: Scheinbar führen sie eine gute Ehe.

Anschei­nend macht aus einer Aus­sage eine An­nah­me. Sie be­ruht auf dem äußeren Ein­druck, wobei es kei­ne An­halts­punkte da­für gibt, daß die­ser Ein­druck trü­gt. Das Paar führt also nach au­ßen eine gute Ehe, und alles spricht dafür, daß diese Ehe auch im In­ne­ren so gut ist.

Scheinbar dagegen erzeugt ir­reale Aus­sagen: Eine schein­bar gute Ehe ist dem Schein nach gut, aber tat­säch­lich nicht.

schei­nen und Schein

Anschei­nend und schein­bar gehören zu einer Wortsippe, in deren Zen­trum das Ver­bum schei­nen steht. Es geht zurück auf die ur­indo­germa­nische Wur­zel skiH∙, die als Nasal­präsens ski∙né∙H ins Ger­mani­sche ge­raten ist und dort skīna- lau­tet und als Verb nach der ersten Ab­laut­reihe ge­beugt wird: ich schei­ne, ich schien, ge­schie­nen. Die Be­deu­tung des Wortes ist sicht­bar sein, zu se­hen sein, schei­nen; schim­mern. Dieses Scheinen ist grund­sätz­lich nicht trü­ge­risch, son­dern ein­fach nur Sicht­bar­keit.
Nasalpräsentien sind Ver­ben, die die Gegen­warts­form bil­den, in­dem sie ein ∙n∙ mit­ten in die Wur­zel ein­fügen. Zum Bei­spiel: Aus dem La­teini­schen fi∙n∙gie­ren, aber fik­tiv; aus dem Eng­lischen to sta∙n∙d, aber I stood.
Ablautreihen ist eine Un­ter­glie­de­rung der Beu­gung der star­ken Ver­ben. Wenn Ver­ben den­sel­ben Vokal­wech­sel auf­wei­sen, ge­hören sie zu der­sel­ben Ablaut­reihe.

Deswegen bezeichnen alle Wörter der Wort­sippe von scheinen bis ins 18. Jahr­hun­dert hin­ein ganz schlicht, daß et­was zu se­hen ist: Die Sonne scheint. Son­nen­schein. Bis weit in die Neu­zeit ist all das schein­bar, was zu se­hen ist oder zu­tage tritt. Erra­tum: Das Schim­mern ist nicht vom Schim­mer ab­ge­lei­tet, wie im Video be­haup­tet, son­dern um­ge­kehrt der Schim­mer vom Schim­mern.

Liebt nicht mit Worten nur allein. Laßt eure Liebe schein­bar seyn, durch wah­ren Mund und rech­te Tha­ten.

Opitz

Daß dieser Schein trügt, bedeutet schein­bar offiziell erst von 1780 an. Der Vorgang be­ginnt be­reits um 1741 mit dem Teutsch-La­tei­ni­schem Wör­ter­buch von Jo­hann Leon­hard Frisch. In jener Zeit blü­hen Wis­sen­schaft und Phi­lo­sophie auf. Man suchte nach einer ein­fachen Mög­lich­keit, Wirk­liches deut­lich von Unwirk­lichem zu unter­schei­den. Ein Bei­spiel: Der schein­bare Ort eines Ster­nes ist der Ort, wo dieser Stern zu se­hen ist. Flöge man al­ler­dings dort­hin, wür­de man der Krüm­mung des Lichts auf den Leim gehen und kei­nen Stern fin­den, denn der tat­säch­liche Ort des Sterns un­ter­schei­det sich von seinem schein­baren.

Aus diesem Grund beginnen die Wörterbuchverfasser um die Mitte des 18. Jahrhunderts, schein­bar um­zu­defi­nie­ren. Be­deu­tete es zuvor zu tage tre­tend, sicht­bar sein, so be­deu­tet es jetzt trü­ge­risch schei­nen als.

Den Schein von etwas habend, ohne es wirk­lich zu seyn, und in en­ge­rer Be­deu­tung, den Schein der Wahr­heit habend. Die schein­bare Un­schuld des Spie­les ver­lei­tete ihn zur Sicher­heit. Sie stand in einer schein­baren Ver­legen­heit auf.

Johann Chri­stoph Ade­lung: Gram­ma­tisch-kri­ti­sches Wör­ter­buch der Hoch­deut­schen Mund­art (1780); Zitat gekürzt.Ganzen Eintrag bei der Bayerischen Staatsbibliothek ansehen

Dieser Be­deu­tungs­wech­sel war gut moti­viert. Be­trach­ten wir einige Be­grif­fe, die mit dem Wort­bil­dungs­ele­ment -schein- ge­bil­det sind:

  • schein­bar
  • anschei­nend
  • scheinheilig
  • wahr­schein­lich
  • unschein­bar
  • Scheinangebot

Wo schein am Beginn des Wortes auftaucht, wird der Schein in Kon­trast zum Sein ge­setzt. Die­se Wör­ter ver­wei­sen auf einen trü­geri­schen Schein. Wer schein­hei­lig ist, ist nur zum Schein hei­lig, also sei­nem wah­ren Wesen nach un­hei­lig und un­ehr­lich. Ein Schein­angebot ist kein ehr­lich ge­mein­tes An­gebot. Es wird nur zum Schein ab­gege­ben.

In den Begriffen wahr­schein­lich und anschei­nend steckt der Schein mit­ten im Wort. Hier be­deu­tet Schein nur, daß et­was ir­gend­wie aus­sieht. Daß er trügt, be­haup­ten diese Wör­ter nicht. Das sieht man auch deut­lich an der Ne­ga­tion un­schein­bar. Was un­schein­bar ist, ist bloß kaum zu se­hen. Aber was man davon sieht, das ist es auch.

Wie bei scheinheilig und Scheinangebot steht der Schein bei schein­bar am Wort­anfang. Hier wird der Schein vor­an­ge­stellt und kon­tras­tiert so­mit zum Sein. Der schein­bare Ort eines Sterns ist der Ort, den der Stern dem Schein nach hat.

anscheinend

Anscheinend ist das Partizip Präsens zu anschei­nen und die einzige Form dieses Ver­bums, die heute noch in Gebrauch ist. Es wird stets als Adverb gebraucht. Er war un­schul­dig, aber die An­schei­nun­gen spra­chen gegen ihn. Anschei­nen be­zeich­net also das sicht­bare Bild von et­was oder wie die Sache gese­hen wird. Spricht man heu­te von anschei­nend, dann meint man, daß et­was nach et­was aussieht, man also vom Äu­ßeren auf das In­nere schließt.

Bei AdelungExterner Link zum Originaleintrag bei der Bayerischen Staatsbibliothek findet man Hinweise darauf, daß anscheinend seine Aus­brei­tung dem Schauer­deutsch der Juri­sten ver­dankt und in edler Schreib­art ge­mie­den wurde.

Falsches scheinbar im Umgangsdeutschen

Aber wenn anschei­nend und schein­bar so klar de­fi­niert sind, warum wer­den sie dann so häu­fig ver­wech­selt?

Die Wörterbuchautoren, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahr­hun­derts für die­se Um­deu­tung ver­ant­wort­lich sind, hat­ten Texte im Sinn, bei de­nen der Ver­fas­ser sich ge­nau über­legt hat, ob et­was wirk­lich so ist, wie es aus­sieht, oder nur zum Schein. Wer aller­dings im All­tag eine Aus­sage trifft, trifft sie meist spon­tan. Des­halb wird seit jeher gerne schein­bar ver­wen­det, wo an­schei­nend ge­mäß der heu­te gül­tigen De­fini­tion rich­tig wäre — oder bes­ser: von Sprach­rat­gebern und Wörter­büchern seit zwei­hun­dert­fünf­zig Jah­ren pene­trant pro­pa­giert wird, ohne daß es die mei­sten inter­essier­te.

Vorsicht beim Gebrauch von schein­bar und an­schei­nend!Schein­bar drückt ei­nen der Wirk­lich­keit nicht ent­spre­chen­den Schein aus; an­schei­nend eine Be­ob­ach­tung, an die der Be­rich­ter glau­ben möch­te, ohne sich aber für ihre Stich­hal­tig­keit zu ver­bür­gen. Dem Sinn nach deckt es sich also un­ge­fähr mit augen­schein­lich und of­fen­bar.

Wenn eine Zei­tung schreibt: die Her­ren ver­leb­ten schein­bar ei­nen köst­lichen Abend — so ist das et­was ganz an­de­res, als was der Zei­tungs­schrei­ber sa­gen will.

Wenn je­mand er­zählt: das jun­ge Paar war schein­bar ganz glück­lich, so wird da­durch, ge­wiß ohne Ab­sicht, sein Glück zum Schein­glück vor den Leu­ten ge­macht! Zu solch be­denk­licher Ver­wir­rung kann der fal­sche Ge­brauch ge­rade die­ses Wor­tes füh­ren! Und doch ist jetzt die­se Ver­wechs­lung eine un­se­rer häu­fig­sten Sprach­sün­den!

Gustav Wustmann: Sprach­dumm­heiten. 1955, 13. Aufl., S. 272

Ein Beispiel: Je­mand tritt auf den Bal­kon, sieht den ro­ten Abend­him­mel und sagt: Gibt schein­bar schlech­tes Wet­ter morgen.

Der Mann auf dem Balkon drückt also ir­real aus, was tat­säch­lich poten­tial ist. Denn der rote Abend­him­mel wird ja tat­säch­lich als Zei­chen für ei­nen Wet­ter­umschwung ge­deu­tet. Alles deu­tet darauf hin, nur ganz sicher kann man sich nicht sein. Wer sagt: Gibt schein­bar schlech­tes Wet­ter mor­gen, der meint: Gibt wohl schlech­tes Wet­ter mor­gen oder Gibt an­schei­nend schlech­tes Wet­ter mor­gen oder Es sieht so aus, daß es morgen schlech­tes Wet­ter gibt.

Bastian Sick begründet die Beliebtheit von schein­bar so:

Die Hartnäckigkeit, mit der sich schein­bar am fal­schen Fleck be­haup­tet, ist mög­licher­weise auch mit der ge­stie­genen Be­liebt­heit der End­silbe -barbe­gründ­bar. Außer­dem ist schein­bar an­schei­nend prak­tischer, zu­mal um eine Sil­be kür­zer.

Bastian SickExterner Link zur Quelle.

Diese Begründung ist schon deshalb zurückzuweisen, weil die Beliebtheit von schein­bar um Jahrhunderte älter ist als die der Bildungen auf ∙bar. Dar­über hin­aus ist sie auch gram­mati­ka­lisch falsch: Nur tran­sitive Verben bil­den Ab­lei­tun­gen mit ∙bar und ha­ben dann im­mer pas­sivi­sche Be­deu­tung: et­was tra­gentragbar et­was, was ge­tra­gen wer­den kann. Schei­nen ist jedoch ein in­transi­tives Verb und schein­bar nicht et­was, was ge­scheint wer­den kann. Tran­sitiv ist ein Verb, wenn es ein Ob­jekt (Ak­kusa­tiv) bei sich hat.

Scheinbar ist die Adjektivableitung zum Substantiv Schein und be­deu­tet Den Schein tragend/füh­rend nach dem Sche­ma der de­nomi­na­len Ab­lei­tun­gen kost­bar, of­fen­bar, dank­bar, wun­der­bar, die aktivische Be­deu­tung ha­ben. Schein wie­der­um ist von schei­nen ab­gelei­tet (nicht um­ge­kehrt).

Ernsthafter könnte man zur Begründung für die Beliebtheit von schein­bar annehmen, das ir­reale schein­bar stehe mit­ten in der Wort­sippe von schei­nen als einziger Be­griff für Ir­reali­tät. Das ist jedoch nicht der Fall, weil Ir­reali­tät über­all dort besteht, wo schein- das erste Glied einer Zu­sam­men­set­zung bil­det: Schein­ange­bot, schein­hei­lig. Es fällt auch ins Ge­wicht, daß schein­bar nur als Ad­verb fälsch­lich ver­wen­det wird, als Ad­jek­tiv da­gegen ge­mäß der neu­en De­fini­tion:

  • Adverb Gibt scheinbar schlechtes Wetter morgen.
  • Attribut Das sind alles scheinbare Gründe.
  • Prädikatsnomen Diese Gründe sind nur scheinbar.

Wir sehen den Grund für die Beliebtheit von schein­bar dar­in, daß Aus­sagen im All­tag spon­tan ge­macht wer­den, ohne daß man be­urtei­len kann, ob et­was wirk­lich oder un­wirk­lich ist. So findet man un­echte Ir­reali­tät in ge­spro­che­nem Deutsch an vie­len Stel­len, zum Bei­spiel beim Kon­junk­tiv 2 der HöflichkeitTutorial: Kon­junk­tiv der Höflichkeit:

  • Könnten Sie mir bitte die Tür aufhalten?
  • Wie wäre es, wenn wir noch etwas trinken?
  • Warst du beim Friseur? Könnte schon sein.

Höflichkeit entsteht dadurch, daß man die Bitte ir­real for­mu­liert, damit sich der An­gespro­chene nicht vor voll­endete Tat­sachen ge­stellt fühlt.

Ein ähnliches Motiv findet man in der Wen­dung: Ich wüß­te nicht, was dar­an nicht stim­men soll­te.

So wird auch scheinbar im Alltag durchaus korrekt gebraucht, wenn eine in Wahr­heit po­ten­ti­ale Aus­sage ir­real for­mu­liert wird. Mit die­ser Schein­ir­realität möchte der Spre­cher sich selbst zu­rück­neh­men. Manch­mal kann das Ziel auch Ironie sein:

  • Du kommst scheinbar überhaupt nicht mehr vorbei. Aber schön, daß du hier bist.

Ausdrücke mit scheinen und ähnliche Konstruktionen

Neben scheinbar und anscheinend kennt das Deut­sche aber auch eine un­er­meß­liche Zahl von Wen­dungen, bei denen es um das Schlie­ßen vom Äu­ßeren auf das Innere geht:

  • Es scheint …
  • Es sieht so aus …
  • Der Eindruck …
  • Es hat den Anschein …
  • Er erweckt den Eindruck …
  • Er wirkt …

Welchen Aussagemodus ha­ben Aus­sagen, die auf diese Weise eingeleitet wer­den? Das Deut­sche kann durch den fol­gen­den Neben­satz oder einen anderen An­schluß prä­zise zum Aus­druck brin­gen, ob die Aus­sage real, po­ten­ti­al oder ir­real ist.

Daß-Sätze

Der normale Anschluß ist ein Daß-Satz. Daß-Sätze geben stets den Inhalt von dem an, worauf sie sich syn­tak­tisch beziehen. Sie sind also At­tribut­sätze.

  • Die Tatsache, daß du kommst, ist aber schön.

Oft wird das Bezugswort im übergeordneten Satz weg­ge­las­sen. Aus dem At­tri­but­satz wird dann ein Sub­jekt- oder Ob­jekt­satz:

  • Die BlumeSubjekt ist aber schön.
  • Daß du kommst,Subjekt ist aber schön.
  • Ich will ein EisObjekt.
  • Ich will, daß du kommstObjekt.

Steht der Daß-Satz im Indikativ, ist die Aus­sage Poten­tia­lis. Der Poten­tia­lis kommt durch die Ein­lei­tung Es sieht so aus … zum Aus­druck.

  • Er erweckt den Eindruck, daß ihn das alles nichts angeht.

Steht der Konjunktiv 2, ist die Aussage Irrealis.

  • Er erweckt den Eindruck, daß ihn das alles nichts anginge.

Im ersten Satz stimmt der Eindruck, oder es ist zumindest wahr­schein­lich daß er stimmt. Im zwei­ten Satz möchte der Spre­cher sagen, daß es ihn sehr wohl et­was an­geht, daß er jedoch vorgibt, daß wäre nicht der Fall.

Es scheint mit Infinitiv

Ist das Subjekt des Hauptsatzes auch das Subjekt des Daß-Satzes, weicht man auf die In­fini­tiv­kon­struk­tion aus. Das gilt auch, wenn das Sub­jekt des Glied­sat­zes eine Per­son, das des Haupt­satzes nur es ist.

  • Er/es scheint, daß er krank ist.
  • Er scheint krank zu sein.

Diese Aussage ist wie der indi­ka­ti­vi­sche Daß-Satz ein Realis oder Poten­tia­lis. Realis, wenn man durch den äußeren Ein­druck sicher ist, daß er krank ist. Poten­tia­lis, wenn man es für wahr­schein­lich hält. Im All­tag lassen sich die bei­den Fälle kaum unter­schei­den, und sie sol­len auch nicht unter­schie­den wer­den.

Irreal kann diese Kon­struk­tion nur dadurch wer­den, daß noch ein Wi­der­spruch angefügt wird:

  • Er scheint krank zu sein. Obwohl ich nicht daran glaube.

Als-ob-Sätze

Daß-Sätze geben den tatsächlichen Inhalt des­sen an, wo­rauf sie sich be­zie­hen. An­stel­le von einem kon­junk­tivi­schen Daß-Satz kann man den Ein­druck auch mit et­was anderem ver­glei­chen.

  • Es schien, als wäre die ganze Welt gegen sie.
  • Es schien, als ob die ganze Welt gegen sie wäre.

Vergleichssätze mit als (ob) stehen immer im Konjunktiv 2, weil das zu Ver­glei­chen­de nicht mit dem Ver­gleich über­ein­stimmt. Es be­steht da­zwi­schen keine Iden­tität, son­dern nur eine hypo­the­tische Ver­knüp­fung. Oft sieht man den Kon­junk­tiv 1 in Ver­gleichs­sät­zen: als ob er sei, habe, gehe usw. Der Ver­fas­ser hält den Kon­junk­tiv 1 für ge­ho­be­ner und kor­rek­ter. Der Kon­junk­tiv 1 hat hier allerdings nichts zu suchen und ist immer falsch.

Wo allerdings nichts ver­gli­chen wird, darf auch kein Ver­gleichs­satz an­geschlos­sen wer­den. Eben dies gehört zu den häu­fig­sten Feh­lern im Deut­schen:

Wenn Roan und Taru nachmittags von der Schule nach Hause kom­men, gehen sie erst ein­mal ihre jun­gen Freun­de be­suchen. Und es scheint, als ob die Ele­fan­ten schon dar­auf war­te­ten.

Spiegel OnlineExterner Link zu Spiegel Online

Man sieht dem Zitat an, daß sein Urheber die gesamte Kon­struk­tion und auch die Verwendung des Kon­junk­tivs nicht ver­stan­den hat. Weil das Syn­tag­ma schien, als ob oft vorkommt, nimmt er irr­tüm­lich an, dies wäre der nor­male An­schluß. Tat­säch­lich ent­hält der Ver­gleichs­satz aber gar kei­nen Ver­gleich, son­dern den Inhalt des Schei­nens selbst. Außer­dem ist die Aus­sage ir­real, ob­wohl der Ver­fas­ser ge­nau das Gegen­teil be­absich­tigt hat. Richtig wäre ein Daß-Satz:

Wenn Roan und Taru nachmittags von der Schule nach Hause kom­men, gehen sie erst ein­mal ihre jun­gen Freun­de be­suchen. Und es scheint, daß die Ele­fan­ten schon darauf warten.

Ebenso falsch ist der Vergleichssatz mit Indikativ:

Carlos Barrios […] klettert aus der Ret­tungs­kap­sel. Er fällt sei­nem Va­ter Antenor in die Arme und umarmt jeden ein­zel­nen sei­ner Ret­ter. Auf der Trage, auf der er in den Medi­zin­con­tai­ner ge­bracht wird, winkt er fröh­lich in die Men­ge. Es scheint, als ob er das 69 Tage wäh­rende Mar­tyri­um unter Tage gut über­stan­den hat.

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Zusammenfassung und Empfehlung

Das Verbum scheinen verrät selbst nicht, ob es um Sein oder Schein geht. Es sagt nur, daß man mit Hilfe eines äußeren Ein­drucks auf et­was schließt. Hält man die­sen Ein­druck für wahr oder wahr­schein­lich, schließt man stets einen Daß-Satz im Indi­kativ an. Möch­te man den Poten­tia­lis, also die Wahr­schein­lich­keit ohne völ­lige Gewiß­heit her­vor­heben, löst man das Satz­gefüge auf und ersetzt es durch einen Haupt­satz mit anschei­nend.

Irreales wird durch konjunktivische Daß-Sätze oder einen Ver­gleichs­satz aus­ge­drückt, der ohne­hin im­mer im Kon­junk­tiv 2 steht. Außer­dem kann man eine nor­male Aus­sage durch schein­bar ir­real machen. Ver­wen­det man scheinbar als Ad­jektiv­attri­but, wird nur das Be­zugs­wort ir­real, bei schein­bar als Prä­dikats­nomen oder als Adverb die ge­samte Aus­sage.