Falsche Großschreibung bei Pronomen

rechtschreibung Immer häufiger stößt man in Texten auf großgeschriebene Pronomen wie ›der Andere‹ oder ›Manche‹. Anscheinend halten die Verfasser dieser Texte solche Formen für Substantivierungen. Es wird Zeit, die Großschreibung im Deutschen abzuschaffen.
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Video veröffentlicht am 21.06.2011 (59.96 MB).

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Rechtschreibung des Pronomens

Pronomina werden in der alten und in der neuen Recht­schrei­bung klein­geschrie­ben. Die Schwie­rig­keit be­steht be­son­ders bei In­defi­nit­pro­nomi­na wie einige, der andere, manche da­rin zu er­ken­nen, was ein Pronomen ist.

Sie werden in jüngster Zeit oft mit substantivierte Adjektiven verwechselt. Hier vier Beispiele:

Sogar Stefan Raab, bei dem man zumindest fest an eine ver­steck­te Ebene hinter dem ewigen Mode­ratoren­grin­sen glaubt, macht seine Witze auf Kosten Anderer eher selten ins Ge­sicht des Ge­gen­übers - sondern führt die Menschen nor­maler­weise lieber aus der Kon­serve vor.

Jenny Zylka, Spiegel Online, 11.6.2011
Falsche Großschreibung von 'die anderen'
Falsche Großschreibung des Indefinitpronomens
Falsche Großschreibung von 'die anderen'
Falsche Großschreibung des Indefinitpronomens
Falsche Großschreibung des Indefinitpronomens
Falsche Großschreibung des Indefinitpronomens

Die Verfasser dieser Beispiele halten die markierten Pronomina offen­kun­dig für sub­stan­tivierte Ad­jek­tive. Wir nehmen an, daß sie wenig lesen, wo­durch ihnen das in Mil­lio­nen von deut­schen Schrift­doku­menten ty­pi­sche Schrift­bild der Klein­schrei­bung sol­cher Wör­ter nicht ge­läu­fig ist. Aus die­ser Not her­aus fan­gen sie an, selbst zu über­legen, ob sie das Wort groß- oder klein­schrei­ben sol­len. Da ihnen aus der wohl nicht lange zu­rück­liegen­den Schul­zeit das Prin­zip der Sub­stanti­vie­rung im Kopf her­um­schwirrt und die beiden letzten Bei­spie­le mit dem be­stimm­ten Artikel ste­hen, ent­schei­den sie sich für die Groß­schrei­bung.

Rechtschreibregeln

Beginnen wir mit der Recht­schreib­vorschrift. Sie könnte nicht ein­facher sein und lautet in neuer und alter Recht­schrei­bung gleich: Pronomina schreibt man klein.

Dies bereitet bei den meisten Arten des Pronomens auch keine Schwie­rig­kei­ten, zum Beispiel:

  • Personalpronomen: ich, du, er, sie, es, wir, ihr, sie.
  • Demonstrativpronomen: der, die, das; dieser, jener …
  • Relativpronomen: der
  • Interrogativpronomen: welcher …

Betroffen ist nur die Gruppe der unbestimmten Pronomen (In­defi­nit­pro­nomen):

  • einer, keiner
  • jemand, niemand, etwas
  • wenige
  • einige
  • mancher, manche
  • viele
  • jeder, alle

Sowie Bildungen, die auch zu den Indefinita gehören, tra­di­tio­nell (ver­altet) aber hier und da ein­geord­net werden:

Man erkennt ein Pronomen nicht an seiner Bil­dung und Beu­gung. Dann müß­ten wir zum Bei­spiel jemand groß­schrei­ben, >weil es seiner Bildung und Beu­gung nach ein Sub­stan­tiv ist.

Nur die Syntax, also die funktionalen Einheiten des Satzes, bestimmen, was Pronomen ist und was nicht.

Wenn Sie mit der Vorschrift zufrieden sind, können Sie hier aufhören zu lesen und sich nur die obigen Schreibungen einprägen. Von hier an geht dieser Artikel der Frage nach, warum diese Wörter Pronomina sind und warum man Pronomina kleinschreibt.

Werfen wir einen Blick in die amtliche Rechtschreibung:

In folgenden Fällen schreibt man Adjektive, Par­tizi­pien und Pro­nomen klein, obwohl sie for­male Merk­male der Sub­stanti­vier­ung auf­weisen: […] (4) Pronomen, auch wenn sie als Stellvertreter von Sub­stan­tiven ge­braucht wer­den, zum Beispiel:

  • In diesem Wald hat sich schon mancher verirrt.
  • Ich habe mich mit diesen und jenen unterhalten.
  • Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen.
  • Das muss (ein) jeder mit sich selbst ausmachen.
  • Wir haben alles mitgebracht.
  • Sie hatten beides mitgebracht.
  • Man muss mit (den) beiden reden.

Amtliche Rechtschreibung, Paragraph 58

… obwohl sie formale Merkmale der Substantivierung auf­wei­sen. — Damit ist zum Beispiel der bestimmte Artikel gemeint. Wo das amt­liche Recht­schreib­regel­werk von formal spricht, meint es, daß etwas so aus—sieht als ob. So wie ein Mann for­male Merk­male einer Frau aufweist, weil er Brust­war­zen be­sitzt. Dennoch ist er keine Frau. Ihm fehlen dazu alle tat­säch­lichen Merk­male, die pri­mären Ge­schlechts­organe nämlich und was sonst noch alles nur an Frauen auftritt.

Und weiter heißt es: Pronomen, auch wenn sie als Stellvertreter von Substantiven gebraucht werden … Pronomen sind niemals Stell­ver­tre­ter von Sub­stan­tiven, auch wenn man beim Redigieren eines Tex­tes manch­mal überlegt, ob man ein Sub­stan­tiv bes­ser durch ein Pro­nomen ersetzen sollte (oder umgekehrt). Das sind kom­posito­rische Über­legun­gen, die nichts mit dem zu tun haben, was im Sprach­zentrum unseres Gehirn geschieht.

Es gibt nur einen einzigen Satz — und zwar den, der tatsäch­lich ge­sagt oder ge­schrie­ben wurde. Wenn darin ein Pro­nomen auf­tritt, dann bezieht es sich direkt auf das, worüber ge­spro­chen wurde. Es ist sprach­lich-sachlich und met­ho­disch un­zuläs­sig an­zuneh­men, hier würde in unse­rem Sprach­zen­trum zuerst ein virtueller Satz mit einem Sub­stan­tiv oder Eigen­namen ge­bil­det (Tiefen­ebene) und dar­aus dann erst der tat­säch­lich zu äußernde Satz abgeleitet, bei dem das Sub­stan­tiv der Tie­fen­ebene durch ein Pro­nomen ersetzt würde.

Stellen Sie sich vor, ein Mann hat sich mit seiner Freundin in der Stadt ver­abre­det. Als er am Treff­punkt an­kommt, wartet die Frau be­reits, aber nicht allein, sondern in Be­glei­tung eines ande­ren Man­nes, den unser Mann nie zuvor ge­sehen hat. Wie es ihm die Natur ein­gegeben hat, sieht unser Mann so­gleich rot und fragt: Wer ist er denn?

In diesem Beispiel ist jede Möglich­keit aus­geschlos­sen, daß das Pro­nomen er ir­gend­ein anderes Wort er­setzt. Es re­fe­riert direkt auf den ande­ren Mann.

Pronomina sind Substantiven in einem Satz­schema also ganz und gar gleich­berech­tigt und er­set­zen ein­an­der nicht. Diese Er­kennt­nis ist wich­tig, weil nur sie erklärt, warum wir Pro­no­mina klein­schrei­ben. Stün­den Pro­no­mi­na an Sub­stan­tivs Statt, müßten wir sie alle­samt großschreiben: Er, Es, Dies …

Substantive und substantivierte Wörter schreibt man also groß, Pro­no­mi­na klein. Doch wann ist etwas ein Pro­nomen und kein Sub­stan­tiv? Die Antwort ist ganz leicht: Wenn etwas keine Sub­stanz hat, ist es kein Substantiv. Oder wie in der Grund­schule: Wenn etwas kein Name ist, ist es kein Namenwort.

Bevor wir uns dies genauer ansehen, schließen wir die Recht­schreib­vorschrif­ten ab. Offenbar ist auch der andere ein Pronomen, denn die amtliche Recht­schrei­bung schreibt Kleinschreibung vor.

[Klein schreibt man:]

(5) die folgenden Zahladjektive mit allen ihren Flexionsformen: viel, wenig; (der, die, das) eine, (der, die, das) andere

  • Das haben schon viele erlebt.
  • Zum Erfolg trugen auch die vielen bei, die ohne Ent­gelt mit­gear­bei­tet haben.
  • Nach dem Brand war nur noch weniges zu ge­brau­chen.
  • Sie hat das wenige, was noch da war, in eine Kiste ver­sorgt.
  • Die meisten haben diesen Film schon einmal gesehen.
  • Die einen kommen, die anderen gehen.
  • Was der eine nicht tut, soll der andere nicht lassen.
  • Die anderen kommen später.
  • Das können auch andere bestätigen.
  • Alles andere erzähle ich dir später.
  • Sie hatte noch anderes zu tun.
  • Unter anderem wurde auch über finanzielle An­ge­legen­hei­ten gesprochen.

Amtliche Rechtschreibung, Paragraf 58

Überrascht, was heutzutage noch Alles alles kleingeschrieben wird?

Pronomen versus substantiviertes Adjektiv

Um den Unterschied zwischen einem Pronomen und einem sub­stan­tivier­ten Adjektiv zu erkennen, sehen wir uns folgendes Schema an:

Absoluter semantischer Bezug von Adjektiven Alle Dinge, Namen (Wörter) und Aussagen haben absolute Koordinaten im Universum. Das Adjektiv 'grün' ist absolute positioniert. Die Grünen Das substantivierte Adjektiv in einer Aussage bezieht sich immer auf eine absolute Position. Die Grünen liegen bei 20%. Das substantivierte Adjektiv in einer Aussage bezieht sich immer auf eine absolute Position. Claudia Roth ist bei den Grünen.

Das Koordinatensystem ist die ganze Welt. Alles hat seinen Platz in die­sem Universum, das hier der Einfachheit halber zweidimensional ist. Jedes konkrete und abstrakte Ding hat also zwei Koordinaten. Sie sind alle am Ursprung dieses einen Koordi­naten­systems aus­gerich­tet (ge­punk­tete Linien), seien es konkrete Dinge wie die Farbe Grün oder die Partei die Grünen.

Auch Gedanken und Sätze haben einen Ort im Uni­ver­sum. Das Sche­ma ent­hält zwei Sätze, die an ver­schie­denen Orten geäußert werden und nur gemein haben, daß in beiden der Ausdruck die Grünen vor­kommt. Obwohl die Sätze von ver­schie­denen Per­sonen ge­äußert und ge­hört wer­den, be­zieht sich die Grü­nen darin auf eine bestimmte Stelle im Ko­ordi­naten­system. Diese Stelle ist absolut.

Anders ist es in folgendem Schema:

Ein Pronomen hat keinen absoluten Bezug, sondern einen relativen zur Aussage, in der es verwendet wird. Alle Dinge, Namen (Wörter) und Aussagen haben absolute Koordinaten im Universum. Das substantivierte Adjektiv in einer Aussage bezieht sich immer auf eine absolute Position. Der andere gefällt mir besser. Das Pronomen 'der andere' ist relativ positioniert. ander Das Pronomen in einer Aussage bezieht sich immer auf eine relative Position. Der andere gefällt mir besser. Das Pronomen 'der andere' ist relativ positioniert. ander

Beide Sätze sind wieder am globalen Koordinaten­system aus­gerich­tet. Doch der gemeinsame Ausdruck, die anderen, bezieht sich nicht auf ein und den­sel­ben Punkt im System, weil in den Sätzen mit der andere je­weils ein anderer gemeint ist. Die Wen­dung ist je­weils an einem wei­te­ren, loka­len System aus­gerich­tet: dem Satz. Der Bezug ist relativ.

Substantive, Adjektive und Verben haben einen absoluten Bezug, weil sie eine Bedeutung haben. Sie sind lexikalisch. Das Pronomen hat dagegen einen relativen Bezug. Seine Bedeutung entsteht erst durch den Satz, in dem es verwendet wird, so daß man gar nicht von einer Be­deu­tung, son­dern von einer Funktion sprechen muß. Pro­nomina haben keine Be­deu­tung, sie üben eine Funktion aus.

Als Attribut oder substantiviert beschreibt das Adjektiv eine Eigen­schaft, die immer länger an­dauert als die im Prädikat eines Satzes geschil­derte Hand­lung.

  • Das kleine Kind spielte mit dem Ball.

Klein ist eine Eigenschaft, die dem Kind anhaftet, vor, während und nach­dem es mit dem Ball spielt.

  • Das andere Kind spielte mit dem Ball.

In diesem Satz ist ander keine Eigenschaft. Das Kind ist nur innerhalb der Aussage das andere, in anderen Aussagen nicht.

Substantivierte Pronomina

Substantiviert ist ein Pronomen nur, wenn es zum Namen gemacht wird:

  • Jemand hat für dich angerufen, aber dieser Jemand hat seinen Namen nicht genannt.