Idiot

Wie aus dem idiōtēs im alten Athen der moderne Idiot wurde.

Idiot

Auf Telepolis stellt der Autor Klaus Norbert sein neues Buch Idioten Made in GermanyExterner Link zur Buchpräsentation bei Knaur vor. Im Interview erklärt er, was er unter Idiot versteht:

Am blödesten und zugleich schade finde ich, dass uns der Ur­sprung des Wor­tes "Idiot" kaum mehr be­kannt ist. Vielleicht ist das schon die fatalste Bil­dungs­lücke, weil uns von allen Seiten eingeredet wird, welch wun­der­bare Demokratie sich im Nach­kriegs­deutsch­land West etabliert hätte.

Mit "Idioten" im Titel von "Idioten Made In Germany" meine ich den Begriff, welchen man im alten Grie­chen­land generell von unfreien Men­schen hatten. "Idiotes", das waren die Skla­ven, Hand­werker, Ar­bei­ter, Sol­da­ten, Arme, Be­hin­derte, und übri­gens gene­rell Frauen. In der einstigen "Wiege der Demo­kratie" wurden sie genauso ver­schau­kelt und knapp ge­hal­ten wie heute der größ­te Teil der deutschen Be­völke­rung, übri­gens auch der vor kur­zem noch um­hegte Mit­tel­stand. Die "Idiotes" hatten nichts zu mel­den, waren in jeder Hin­sicht Bür­ger zwei­ter Klasse.

Klaus Norbert (Interview auf Telepolis)Externer Link zum Interview auf Telepolis

Ganz gleich ob es stimmt, was Klaus Norbert anführt, fragen wir uns na­tür­lich, was daran fa­tal sein soll, daß viele heute nicht mehr wis­sen, was Idiot im alten Grie­chen­land Athen be­deu­tet hat. Was auch im­mer das war, mit uns und un­se­rem Be­griff Idiot hat es nichts zu tun.

Deutsch Idiot aus englisch idiot

Am fatalsten ist wohl, daß der heute im Deutschen üb­liche Aus­druck Idiot nicht vom at­ti­schen idiō­tēs kommt, son­dern aus aus dem Eng­lischen. Dort ist idiot bereits im 14. Jahr­hun­dert zu einem ter­mi­nus tech­ni­cus der Juris­prudenz ge­wor­den und be­zeich­net dauer­hafte gei­sti­ge Un­zurech­nungs­fähig­keit. Er ge­langt in dieser Be­deu­tung — gei­stig krank und be­hin­dert — im 17. Jahr­hun­dert ins Deut­sche.

Davor kannten die Deutschen das Wort nicht, nur einige Hu­mani­sten kann­ten die la­teini­sche und grie­chi­sche Vo­ka­bel. Von Ver­ges­sen der ur­sprüng­lichen Be­deu­tung kann also keine Rede sein.

Aber auch die Engländer haben idiot nicht direkt aus Grie­chi­schen ent­lehnt, son­dern aus dem Fran­zösi­schen idiote, und die Fran­zo­sen ha­ben es vom la­tei­ni­schen idiota. Die Römer haben es di­rekt von den Grie­chen, aus er­ster Hand so­zu­sagen.

Wenn den Deutschen die Bedeutung Wortes im alten Athen un­be­kannt ist, ist das alles andere als ver­wun­der­lich. Und das gilt für alle Aus­drücke aus dem Grie­chi­schen: Wenn wir von De­mo­kra­tie reden, mei­nen wir nicht im ge­ring­sten das, was man in der kur­zen Epoche der De­mo­kra­tie von Athen dar­unter ver­stan­den hat. De­mo­kra­tie in unserem Sin­ne ist eine Fort­ent­wick­lung der alt­germani­schen Ting­ver­samm­lung. Nahe­zu jedes Detail der re­prä­sen­tati­ven Demo­kratie in den USA, in Groß­britan­nien und im heu­ti­gen Deutsch­land ist eine Konti­nuan­te des ger­mani­schen Ting­sys­tems, ebenso der ur­sprüng­liche Wunsch zur Re­pu­blik. Und darin gibt es nichts, was aus Athen kommt. Der atheni­schen Demo­kra­tie war zum Bei­spiel der Gedanke der Ge­walten­teilung viel fremder als dem ger­mani­schen Ting.

Der Idiōtēs im alten Athen

Zurück zum Idioten (im Deutschen ein schwaches Mas­kuli­num: der Idiot, den/dem/des Idio­ten, die Idio­ten): Er hat nichts mit un­frei zu tun, wie Klaus Nor­bert glaubt. Im al­ten Athen war ein frei­er Mann ἐλεύθερος (eleútheros) (ver­wandt mit Leute)Video-Tutorial: Woher kommen die Deutschen? Wichtige Begriffe der ger­mani­schen Ge­sell­schafts­ordnung.. Das be­deu­tet frei, aber nicht im Sin­ne von frei von einem Herrn oder ir­gend­was, son­dern zu­ge­hörig zur herr­schen­den Schicht. Skla­ven nannte man dagegen δοῦλος (dũlos).

Als ἰδιώτης (idiōtēs) galt in Attika jeder Bür­ger(!), der sich um seine ei­ge­nen An­gelegen­hei­ten küm­mern konnte, weil er kein Staats­amt aus­übte. Der Idio­tes ist also das Ge­gen­teil eines Amts­trä­gers. Er handelte und sprach nur für sich selbst, wäh­rend ein Amts­trä­ger ja im Namen der Athe­ner (Athen) sprach und amts­han­del­te.

Frauen und Sklaven konnten nicht, wie Klaus Norbert be­haup­tet, Idiōtai (so der Plu­ral im At­ti­schen, a-De­klina­tion) sein, weil sie keine Bür­ger waren. Sie waren Pri­vat­besitz eines Bür­gers und ge­hö­rten damit nur mit­tel­bar zur Sphä­re des Eige­nen, das der Aus­druck be­zeich­net.

Neben der Bedeutung des Privatmanns bedeutet ἰδιώτης (idiōtēs) sekundär un­kun­dig, das als nicht zu­stän­dig, nicht kom­petent zu ver­ste­hen ist, denn zu­stän­dig und kom­petent sind im Rah­men des Öf­fent­lichen nur die Staats­ämter. Ge­meint ist also nicht cha­rak­ter­liche oder in­tel­lektu­elle Ah­nungs­losig­keit.

Davon daß die Idiotai im alten Athen nichts zu mel­den hat­ten, wie Klaus Nor­bert glaubt, kann kei­ne Rede sein: Es han­delte sich schließ­lich um die Mas­se der Män­ner mit Bür­ger­recht, und Athen war eine direkte Demo­kra­tie.

Etymologie: Indogermanisch swe∙d∙

Das Wort ἰδιώτης (idiōtēs) ist eine Substantivierung aus dem Adjektiv ἴδιος (ídios). Es bedeutet privat, eigen und be­zeich­net das Ge­gen­teil von öffentlich, gemein. Gemein wie in all­ge­mein, ver­wandt und gleich­bedeu­tend mit la­tei­nisch com­mūnis und englisch com­mon, be­zeich­net die Dinge, die man un­ter­einan­der tauscht. Ein Mein­eid ist ein ver­tausch­ter Eid. Auch das Ver­bum meinen gehört hier­her. Es be­deu­tet das Aus­tau­schen von Ge­dan­ken und An­sich­ten. Die Ver­wen­dung in ge­mein zu je­mand sein ist noch sehr jung.

Das Adjektiv geht auf die ur­indo­germani­scheVideo-Tutorial: Indogermanisch und nicht indoeuropäisch Wurzel swe∙(d∙) zu­rück, aus der zahl­reiche Be­grif­fe in den indo­ger­mani­schen Spra­chen schöpfen, etwa gotisch swes per­sön­lich, eigen, ei­gen­tüm­lich oder la­tei­nisch suus. Es findet sich auch reich­lich in Be­zeich­nun­gen für an­ge­heira­te­te Ver­wandt­schaft: Schwe∙ster, Schwa∙ger, Schwie∙germutter.