Leseprobe

Es ist ein lausiger Dienstagmorgen Ende Februar, und Sie gehen wieder in die achte Klasse. Vor Ihnen liegen vier Schultage mit der Mathe­prüfung am Don­ners­tag. Ferien sind bis Ostern nicht in Sicht.

Auf dem Weg zur Schule greifen Regenböen von vorne an. Im Klas­sen­zimmer beschlagen die Scheiben im Nu, weil der Haus­meister seit dem Morgen­grauen wie ein Irrer heizt.

Auch Ihren Deutschlehrer hat der Regen erwischt. Zu diesem Übel sind ihm auch noch die Gitanes in der Hosentasche abgebrochen, als er sich in der Straßenbahn hingesetzt hat. Ihm steht der Mut an diesem Morgen überhaupt nicht nach den Leiden des jungen Werthers. Er wirft seinen Lederranzen aufs Pult und schreibt schweigend einen Satz an die Tafel, der vom linken Rand bis zum rechten reicht, ruft ein armes Schwein nach vorn und lässt Wortarten und Satzglieder bestimmen.

Die Sache zieht sich bis zur Pause. Der Lehrer nutzt sie, sich beim Zei­tungs­laden auf der anderen Straßenseite ein neues Päckchen Zigaretten zu kaufen. Seine Stimmung lichtet sich. Redselig beginnt er die nächste Stunde, denn er hat seit dem Aufstehen nur einmal kurz gebrummt und als Geistes­wissen­schaftler nun enormen Nachholbedarf. Es geht weiter mit dem ganz normalen Wahnsinn, dem Formulieren von Hypothesen unter Einbeziehung eigener Wis­sens­stände – das ist Lehrplansprech für voreilige Schluss­folge­rungen – oder dem Kennen­lernen alters­angemes­sener Werke bedeutender Autorinnen und Autoren. Und wer könnte Ihrem Alter als Achtklässler angemessener sein als Wolfgang Borchert und Friedrich Hebbel?

Wie bitte? Ihr Deutschlehrer in der Achten hat gar keine Gitanes geraucht, sondern Pfeife? Und beim Wetter habe ich auch zu dick aufgetragen?

Passen Sie einfach die Einzelheiten Ihrem persönlichen Albtraum an. Aber die Hauptsache müsste stimmen, oder können Sie auf Anhieb sagen, wie viele Satzglieder es gibt und wie sie heißen?

Machen Sie sich nichts daraus. Niemand kann das.

Wozu auch? Wenn Sie solche Deutschstunden eines gelehrt haben, dann dass Grammatik eine akademische Übung ist, bei der Situationen der Sprache mit nichtsnutzigen Namen durch­etiket­tiert werden. Ein sinnloser Zeitvertreib, aber zum Glück so selten, dass man die Gram­matik­stunden aus der gesamten Schulzeit an einer Hand abzählen kann.

Ihre Liebe zur deutschen Sprache hat offenkundig nicht darunter gelitten. Sie haben Ambitionen und sich wohl schon das ein oder andere Buch gekauft. Vielleicht eines, das Ihnen erzählt, was es im Deutschen so alles gibt und wie es dazu gekommen ist, und das wie ein langer, verregneter Dienstag im Februar klang.

Vielleicht steht Ihnen auch der Sinn nach gutem und schönem Deutsch. Dafür gibt es Ratgeber. Sie führen vor, wie verlottert das Deutsche ist, und geben Tipps, wie man dagegen anredet. Zum Beispiel mit Genitiven und anderen Stilweisheiten, die darauf abzielen, wie Thomas Mann zu klingen.

Gutes Deutsch klingt aber gar nicht nach Thomas Mann. Es lässt sich nicht nachbauen. Es lässt sich nicht wie eine App herunterladen, indem man andere nachahmt oder Stilregeln befolgt, deren Sinn man nicht versteht. Gutes Deutsch klingt, als hätte man es selbst erfunden. Ganz beiläufig, ohne die Ärmel aufzukrempeln und gepflegt zur Feder zu greifen.

Und das geht leichter, als Sie denken! Wir sehen uns die deutsche Sprache an, als begegneten wir ihr zum allerersten Mal.

Die verschlossene Kiste in unserem Kopf

Das Schicksal des Amerikaners Samuel Langhorne Clemens wechselte seine Stimmung wie eine Barockoper. Noch in der Kindheit verarmt erlernte er als Jüngling zunächst die Schriftsetzerei, von der er sich bald abwandte. Erst viele Jahre später, am anderen Ende seines Lebens, kehrte er zu ihr zurück, als er in eine kapriziöse Druckmaschine investierte, die nicht drucken wollte und all das Vermögen verschlang, das Samuel mit den Jahren angehäuft hatte.

Wir sprechen von einem hübschen Sümmchen, wie man es nie und nimmer als Setzer erwirbt. Auch nicht als Schaufel­rad­dampfer­steuer­mann. Diese zweite Aus­bildung hatte Samuel gerade abgeschlossen, als der ameri­kanische Bürger­krieg ausbrach und zu­aller­erst der Dampf­schiff­fahrt auf dem Missi­ssippi den Garaus machte.

Samuel konnte seiner Zukunft schon im Frieden nicht trauen, deshalb wich er dem Krieg nach Westen aus, wo er sich seinen Lebens­unterhalt als Reporter verdiente.

Wie Samuel in seinen Klatsch­repor­tagen aus den Saloons in Kalifornien berichtete, duftete selbst den Leuten an der Westküste zu sehr nach Revolver. Nach kurzer Weile musste er vor seinen Lesern fliehen. Seine Karriere als Reporter brachte ebenfalls nichts ein – außer dem gesamten Westen Amerikas einen Vornamen: Er hieß von da an Wilder.

Samuel erwarb sein Vermögen, indem er die Augenblicke seines Lebens, in denen er nicht gerade scheiterte oder floh, mit Schrift­stelle­rei füllte, mit den Abenteuern von Tom Sawyer und Huckleberry Finn den guten Jugend­roman erfand – bis dahin hatte es nämlich nur schlechte gegeben! –, wiederholt ein Verbot für das Einschieben von Parenthesen in ohnehin viel zu lange Sätze forderte und es zum wichtigsten amerikanischen Autor im neunzehnten Jahrhundert brachte.

Als Dichter nannte er sich Mark Twain.

Obwohl es auch in dieser Karriere turbulent zuging, kann man in der Schriftstellerei eine von zwei Geraden sehen, die Twains Zickzackleben durchzogen. Die andere war eine besitz­ergrei­fende und un­berechen­bare Geliebte, der Twain im Alter von fünfzehn Jahren für den Rest seines langen Lebens erlag.

Über seine allererste Begegnung mit ihr ist nichts bekannt. Die Auf­zeich­nungen beginnen nämlich erst mit dem Schmied und dem Bäcker. Die beiden waren aus Deutschland eingewandert und hatten sich in Twains Heimat­stadt Hannibal niedergelassen. Sie gelten als die Ersten in einer langen Reihe von Menschen, die daran gescheitert sind, Mark Twain seinem sehnlichen Ziel näher­zubringen: die deutsche Sprache zu sprechen.

Wie liebreizend kann das Deutsch aus dem Mund eines Schmieds schon geklungen haben, fragt man sich in Anbetracht der Wucht, die unsere Sprache von da an in Twains Leben entfaltete. Auf den folgenden Stationen, als Schrift­setzer, als Reporter und als Schrift­steller, kam er immer wieder mit ihr in Berührung. Später stellte er ein deutsches Haus­mädchen nach dem anderen ein, ja, die ganze Familie lernte seinet­wegen Deutsch, seine Frau und sogar Little Susie. Twain unter­nahm ausgedehnte Reisen durch Deutsch­land, verbrachte viele Wochen in Hei­del­berg und weilte später als Greis so lange in Wien, bis er jedem Wiener die Hand geschüttelt und beteuert hatte, er sei der treueste Freund der deutschen Sprache.

Woher kam diese Liebe bloß? Das offenbart Twain nach dem Tod seiner Frau. Ihr Grabstein – Sie ahnen es wohl! – trägt eine deutsche Inschrift: „O meine Wonne.“ Weil Twain fand, dass sich in keinem Brunnen so tief schöpfen lasse wie im Deutschen.

Wie jeder Mensch und jedes Volk haben auch Sprachen einen eigenen Charakter: Die Sprache der alten Ägypter kann zehn Gedanken in einen Satz einmauern, ohne dass man sich darin begraben vorkommt. Das klassische Griechisch ist in der Lage, eine unendliche Menge von Geistes­blitzen an den unmög­lichsten Stellen aneinanderzuknüpfen, ohne das Konstrukt so eng fest­zuzurren, dass sich nicht mehr in alle Richtungen weiterdenken ließe. Keiner Sprache gelingt es wie dem Englischen, das Komplizierteste einfach aussehen zu lassen. It can take a turn on a dime: the cut, to cut, cut. Life, to live, live.

Dem Deutschen wohnt eine ungeheure Ausdruckskraft inne, es kehrt das Innerste nach außen und fördert das Tiefste nach oben:

Jeder Ausdruck ein Magenschwinger, nach dem man nicht mehr aufsteht. Und das sind bloß die Zusammensetzungen!

Im frühen 19. Jahrhundert entdeckte der Dichter Ludwig Tieck die Wald­einsam­keit. Es handelte sich um die bis dahin unbekannte Emp­findung, in Walddicht und Dämmer mutter­seelen­allein übers Moos zu wandeln.

Natürlich stapfte man bereits im Mittelalter einsam durch den Wald, aber keinesfalls auf der Suche nach einem Lebensgefühl. Wer so etwas im Mittelalter suchte, zog in die Stadt. War man bereits Bürger und drängte es einen im Frühling, wenn die Blumen sprangen (heutzutage sprießen sie), hinaus in die Natur, gesaß man gleich vor dem Stadttor auf einen Stein oder einen grünen Leh, genoss den Mai und wartete, ob eine geile Magd vorbeikam. So nannte man damals unver­heiratete Frauen mit Esprit. Im Wald hingegen waren alle Sinne so auf unliebsame Begeg­nungen mit Waldjungfrauen, Waldaffen oder Waldludern gerichtet, dass einen eine Waldreise bestenfalls waldmüde machte.

Erwachen alte Tugenden nach langem Schlummer, werden sie in frische Expressivität gekleidet. Deshalb heißt der Schlaraffe jetzt Hipster und das Widergrullen neuerdings Shitstorm. Das Fremdschämen schickt sich an, als Schlagwort unserer Zeit so erfolgreich zu werden, wie es die Wald­einsam­keit in der Romantik war. Die Urheber und Mit­läufer des Fremd­schämens glauben aus lexi­kali­scher Un­befangen­heit allen Ernstes, sie hätten die Beschämung – so hieß das Fremd­schämen bis zum Jahre 2008 – erst er­funden. Und irgendwie haben sie das auch, denn die Beschämung taugt als Schlagwort einer Epoche unerhörter Selbstoffenbarung nicht, da bedarf es immer eines besonders ex­pres­siven Ausdrucks. Und darum ist das Deutsche nie verlegen.

Davon war Twain, der selbst gern austeilte, so angetan.

Seine Liebe wurde nie erwidert. Während Twains Frau mit aus­gezeich­netem Deutsch brillierte und das Deutsche für Little Susie zur zweiten Muttersprache wurde, klang das, was Twain nach Jahr­zehn­ten der Lernerei zustande brachte, grauenhaft. Sein Deutsch war so schlecht, dass einige seiner Deutsch­lehrer lieber unter einem medizinischen Vorwand gestorben sind, als gegen guten Lohn Hand anzulegen.

Germanisten gibt es zwar ohnehin genug, aber um Twain könnte es einem leidtun, wenn er aus seinem Scheitern nicht Kapital geschlagen hätte. In Auf­sätzen und Vor­trägen schiebt er die Schuld ganz aufs Deutsche. Seine Kri­tik punkte lauten:

Twain nennt das Deutsche schlampig und unsystematisch, für jede Regel gebe es mehr Ausnahmen als Beispiele. Sein Belastungszeuge ist das grammatische Geschlecht:

Im Deutschen hat ein Mädchen kein Geschlecht, während eine Rübe eines hat. Überlegen Sie einmal, welch übersteigerte Ehrerbietung das für die Rübe zum Vorschein bringt und welch einfühllose Respektlosigkeit vor dem Mädchen.

Mark Twain: The Awful German Language.
In: A Tramp Abroad. Hartford 1880. Seite 607.

Seine Leser in Amerika fragten sich, was für Zustände auf der anderen Seite des Atlantiks herrschten. Die Rübe (turnip) ist in deutschen Landen also eine Sie, die junge Dame (maiden) ein Ding?

Das klang so irrwitzig, dass es Twain seinen Landsleuten mit einem anglifizierten Wortgefecht illustrierte, wie es sich bei Ihnen zu Hause wohl heute noch Tag für Tag abspielt:

Gretchen
Wilhelm, where is the turnip?
Wilhelm
She has gone to the kitchen.
Gretchen
Where is the accomplished and beautiful English maiden?
Wilhelm
It has gone to the opera.

Es gibt also Bezeichnungen für Frauen, die nicht weiblich (feminin) sind – das Weib etwa oder das Mädchen –, dafür aber Hunderte von femi­ninen Sub­stan­tiven, die Dinge bezeichnen, die man beim besten Willen nicht mit Frauen verbindet: die Rübe, die Knarre, die Bart­rasur, die Abseitsfalle, die Bundes­liga­tabelle.

Der Löffel ist im Deutschen männlich, die Gabel weiblich und das Messer sächlich. Der Mut, die Demut, das Gemüt. Der oder das Moment?

Ist Ihnen je aufgefallen, dass unter den auf ·nis endenden Wörtern die eine Hälfte sächlich ist?

Die andere dagegen weiblich?

Eine riesige Schlamperei, der Twain mit einer Genusreform ein Ende setzen wollte:

Viertens würde ich die Geschlechter neu organisieren und nach dem Willen des Schöpfers verteilen. Das ist zumindest dem Respekt geschuldet.

Mark Twain: The Awful German Language.
In: A Tramp Abroad. Hartford 1880. Seite 617.

Obwohl es auch unter uns Muttersprachlern gelegentlich zu Querelen kommt, zum Beispiel bei der Frage, ob es die oder der Butter heißt (wenn Verwandte aus der Ferne zu Besuch sind) oder der oder das Blog, hält sich Ihr Reformeifer bestimmt in Grenzen. Das klingt eher nach einem wunderbaren Projekt für unsere Urenkel.

Die Schlamperei ist allerdings nicht zu leugnen, und als Deutscher fragt man sich, wer sie wohl angerichtet hat. Vielleicht ergibt sich für uns eine Möglichkeit, jemand Vorwürfe zu machen.

Dieser Jemand kann jedoch nicht der Erfinder des grammatischen Geschlechts gewesen sein:

Warum entwickeln so viele Sprachen unregelmäßige Genera? Über die Kind­heit von Genus­systemen wissen wir nicht viel, denn in den meisten Sprachen ist die Herkunft der Genus­markie­rungen völlig unklar. Doch die wenigen Anhaltspunkte, die wir haben, lassen die all­gegen­wärtige Ir­rationa­lität ausgebildeter Genus­systeme besonders eigen­artig erscheinen – denn alle Anzeichen deuten darauf hin, dass die Genera in ihrer Frühzeit absolut logisch verteilt waren.

Guy Deutscher: Im Spiegel der Sprache. Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht. Übersetzt von Martin Pfeiffer. München 2010. Seite 233.

Wer auch immer sich die Sache mit den drei Geschlechtern ausgedacht hat, er hat es nicht ohne Absicht getan.

Kommt Ihnen eine andere Absicht in den Sinn als die, die Welt zunächst in Unbelebtes und Belebtes einzuteilen und das Belebte noch einmal in männlich und weiblich? Schließlich gibt es bei fast allen mehrzelligen Lebewesen Männchen und Weibchen. Was lebt und mit bloßem Auge zu erkennen ist, ist eines von beiden, nicht nur Ihr Hund, sondern auch die Topfpflanze auf Ihrem Fensterbrett.

Es muss also ein goldenes Zeitalter gegeben haben, in dem Steine, Stühle, Nägel und Knöpfe neutral (sächlich) waren, Frauen, Mädchen und Kühe feminin (weiblich), Männer und Stiere maskulin (männlich). Das ist es, was Mark Twain unter gottgefälligem Genus und Guy Deutscher unter der absolut logischen Verteilung verstehen.

Dann aber geschah das Gleiche wie in meiner Schreib­tisch­schub­lade: Ich leere sie, wische sauber bis in die Ecken, räume alles geometrisch und pragmatisch ein. Der Hefter liegt vorne, weil ich fortan eifriger abheften will, die Schoko­lade verstecke ich vor mir selbst ganz hinten. Für Notfälle. Drei Tage später ist die Schoko­lade verschwunden, und meine Schublade quillt über vor losen Zetteln.

Dafür liegen die Äpfel unangetastet in der Küche und gammeln vor sich hin. Als Mensch im 21. Jahrhundert weiß ich, dass die Fäulnis das Werk von Mikro­organismen ist, die meine Vorfahren in der Antike oder der Bronze­zeit nicht kannten, weil sie keine Mikroskope besaßen. Das Feuer haben sie wegen seiner züngelnden Flammen für lebendig gehalten, während ich darin eine exotherme chemische Reaktion unter Beteiligung von Sauerstoff wähne.

Es klingt plausibel, dass durch den Wandel der Weltanschauung und den im Alltag nicht zu vermeidenden Mangel an Sorgfalt ganz langsam, im Laufe von Generationen, eine solche Unordnung entstanden ist, wie wir sie in unserer Grammatik finden.

Wir könnten das erste Kapitel zufrieden beenden, wenn mich nicht die Frage quälte, wer von meinen Vorfahren die Gabel für ein weibliches Geschöpf Gottes und den Löffel für einen Mann gehalten hat. Immerhin trage ich die Gene von diesem Idioten in mir.

Und so lautet unser Plan: Wir reisen in der Zeit zurück bis zu dem Augenblick, wo der Stein wieder sächlich wird. Mit etwas Glück liegen so viele Generationen zwischen mir und dem Idioten, dass von seinen Erbanlagen nichts mehr übrig ist.

Daz geile magedīn

Unsere Sprache ist das Neuhochdeutsche. Wir können damit einige Jahr­hunderte weit bis in die Barock­zeit zurück­reisen, ehe das Deutsche beginnt, komisch zu klingen, aber gerade noch verständlich ist:

Heidt hadt mir der Hoffmeister sagen losen das er Mit den koch nit kann auß komen, das er nichtß kann und nie mer alß 2 Speisen oder 3 kocht undt so vill der bei verdient das sündtlich ist.

Das stammt nicht aus Facebook, sondern aus dem Tagebuch der Wiener Gräfin Johanna Theresia von Harrach aus dem 17. Jahrhundert. So klang Früh­neuhoch­deutsch aus der Feder von Menschen, denen das gewaltige Sprach­vermögen von Martin Luther fehlte.

Weh euch Phariseer /
das jr gerne oben ansitzet in den Schulen /
Vnd wolt gegrüsset sein auff dem Marckte.

D. Mart. Luth.: Biblia: das ist: die ganze Heilige Schrift: Deudsch.
Wittemberg 1545. Seite C. XI.
Lukas-Evangelium 11,43.

Wer möchte da noch Pharisäer sein? Wir springen weiter ins Mittelalter und landen im Jahre 1200.

Ez wuohs in Burgonden Es wuchs in Burgund
ein vil edel magedīn ein solch edles Mädchen auf,
daz in allen landen dass es in allen Ländern
niht schœners mohte sīn nichts Schöneres geben konnte.

Ein schönes maged·īn (Mägd·lein) ist kein übler Anfang für eine Geschichte, zumal dieses nicht nur wunderschön, sondern auch noch vil edel ist. So nannte man Prinzessinnen, ehe es dieses Wort im Deutschen gab. Wie sie wohl heißt?

Chriemhilt geheizen, Kriemhild geheißen,
si wart ein schœne wīp sie wurde eine schöne Frau,
dar umbe muosen degen vil derentwegen mussten viele junge Kerle
verliesen den līp Leib und Leben verlieren.

Und zwar deshalb, weil die süße Kriemhild demnächst ausrasten und so lange wüten wird, bis sie selbst und alle Burgunder am Ende des Nibelungenlieds in ihrem eigenen Blut baden.

In diesem Vers finden sich zwei Frauenbezeichnungen, die auch Mark Twain als Beispiel erkoren hatte: das Mädchen (aus Magd· und ·chen) und das Weib. Sie umfassen die beiden Lebens­abschnitte einer Frau im Mittel­alter. Für uns ist eine Magd eine weibliche Hilfskraft auf einem Bauernhof, einst be­zeich­nete man damit schlicht un­verheira­tete Frauen. Weil sich die gemeinen bis zur Heirat auf einem fremden Hof verdungen, ist Magd später zur reinen Bauern­hilfs­kraft verkommen.

Nach der Heirat wurde sie ohne jeden abfälligen Beiklang ein wīb. Dass aus dem langen ī der Zwievokal ei wurde, ist übrigens ein Kriterium, nach dem man das Mittel­hoch­deutsche des Hoch­mittel­alters vom Neu­hoch­deutschen, das wir seit sieben­hundert Jahren sprechen, unter­scheidet. Eines von vielen natürlich, denn wo man im Mittelalter swanzende junc­frouwen findet, spricht eine Fünf­zehn­jährige heutzutage von Abshaken. Beim Swanzen (sich schlängelnd bewegen) und Abshaken handelt es sich um denselben bei jungen Damen in allen Zeiten beliebten Zeitvertreib: argloses Tanzen – und nicht, woran Sie denken!

Magedīn und wīb treten im Nibelungenlied und im Minne­sang dauernd auf und sind wie ihre heutigen Nachkommen Neutra: daz schœne wīb (das schöne Weib), daz geile magedīn (das lebens­frohe Mädchen).

Zu jener Zeit sprach man in England, woher Twains Mutter­sprache stammt, gerade Mittel­englisch. Dort stand das System mit drei Geschlechtern, wie es sie heute noch im Deutschen, aber nicht mehr im Englischen gibt, in Auflösung. Wir kommen gerade rechtzeitig, uns anzusehen, welches Geschlecht die Wörter maiden (das dem mittel­hoch­deutschen magedīn genau entspricht) und wife (Weib) haben. Sie sind so sächlich wie im Deutschen.

Tiefer in die Vergangenheit

Und damit nicht genug! Die englische Rübe (turnip), for example, die Twain als Beispiel für ein gottgefälliges Genus (it) auffuhr, entstand als Vokabel erst im 16. Jahrhundert aus turn (drehen) und dem für alles Rüben- und Gurkenartige gebräuchlichen Wort nēpe. Ein turnip ist ein Wurzelgemüse, das aussieht wie auf einer Drehbank gedrechselt. Aber das Basiswort nēpe war das gesamte Mittelalter hindurch ein maskuliner Rüberich.

Das älteste Deutsch, von dem wir wissen, ist anderthalb Jahr­tausende alt und stammt aus dem 6. Jahrhundert. Es findet sich in Runen auf Gewand­nadeln und Gürtel­schnallen eingeritzt und besteht aus Glück­wünschen und Beteue­rungen, wie lieb man einander hat. Darin ist die Liebe so weib­lich wie heute und der Lauch, damals ein Glücks­bringer, so männlich wie der Schnittlauch vor Ihrem Küchenfenster.

Noch älter ist die Sprache der Goten aus dem 4. Jahrhundert nach Christus. Sie sprachen das älteste Germanisch, das uns schrift­lich überliefert ist. Machen wir es kurz: Der stains, das Sächlichste, was man sich selbst als Gote vorstellen kann, ist so männlich wie unser Stein. Das skip ist wie bei uns sächlich, obwohl ein Schiff sogar für Seeleute mit englischer Mutter­sprache, in der es gar kein Genus mehr gibt, eine She ist:

Manager of the Line Insisted Titanic Was Unsinkable Even After She Had Gone Down.

The New York Times am 16.4.1912

Damit endet unsere Zeitreise nicht. Was Sie gestern im Supermarkt zur Verständigung benutzt haben, ist noch viel älter als die Goten. Das Germanische mit all seinen Einzelsprachen ist selbst nur einer von dreizehn Zweigen der indo­germanischen Sprachfamilie. Erinnern Sie sich, dass wir auf der Suche nach dem Idioten sind, der die ganze Unordnung verursacht hat? Wie es aussieht, ist er nicht nur mit mir, sondern auch mit Ihnen verwandt.

Ausbreitung und Verzweigung des Indogermanischen in Eurasien mit ausgewählten Sprachen.

Wir reisen von den Goten noch ein halbes Jahrtausend zurück in der Zeit und landen im alten Rom. Die Senatoren auf dem Forum tragen zu ihrer Toga den maskulinen calceus, einen Schuh, der aussieht wie die Outdoorpantoffeln des Papstes und unserem geschlossenen Schuhwerk am nächsten kommt.

Zu Hause trägt man dagegen gern die feminine solea, eine besondere Art des sächlichen sandaliums, beziehungsweise der weiblichen crepida, wie man Sandalen auch noch nennt. Bauern und Sklaven stapfen in derben und maskulinen pērōnes durchs Leben, Soldaten marschieren in femininen caligae.

Und Frauen? Tragen die im alten Rom etwa keine Schuhe? Aber natürlich! Den maskulinen soccus.

Apropos soccus! Der Socken oder die Socke?

Heilloses Durcheinander

Schöpfen wir Atem! Zweitausend Jahre haben wir zurückgelegt, ohne dass sich die Unordnung auflöst. Sie verschlimmert sich eher.

Hat denn in all der Zeit niemand denselben Einfall wie Twain gehabt und ausgemistet? Wenn zwischen dem Wesen einer Sache und seinem Genus kein Bezug besteht, ist das System sinnlos und gehört abgeschafft.

Das Deutsche und die anderen indogermanischen Sprachen haben so gut wie alles einmal abgeschafft und später wieder neu erfunden: Zeitformen, Konjunktive, wie wir die Mehrzahl bilden, die Reihenfolge der Wörter im Satz. Nur eines nicht: das Genus der Substantive.

Keine einzige Sprache hat das chaotische System angetastet oder gar aufgegeben. Zwar besitzen nicht mehr alle Sprachen die ursprüngliche Dreizahl aus Maskulinum, Femininum und Neutrum, wie sie im Deutschen erhalten ist, doch liegt der Grund für diesen Schwund nicht beim Genus selbst.

Das Italienische und die anderen romanischen Sprachen kennen kein Neutrum. Es ist bereits im Spätlateinischen mit dem Maskulinum verschmolzen, weil zu jener Zeit Konsonanten am Ende jedes Wortes verklangen. Unglücklicherweise erkannte man diese beiden Geschlechter an einem solchen Endkonsonanten. Das Femininum endete auf einen Vokal und blieb unversehrt.

Zusammenfall von Maskulinum und Neutrum im Italienischen
  Lateinisch Italienisch
Maskulinum lupu∙s (Wolf) il lup∙o
il centr∙o
Neutrum centru∙m (Mittelpunkt)
Femininum caus∙a (Sache) la cos∙a

Im Englischen trat dagegen der Worst Case ein. Zunächst verblassten im frühen Mittelalter wie im Deutschen all die bunten Vokale am Wortende, die im Italienischen (la pizz·a, il for·o, il tiramis·ù) noch so prächtig klingen: bluoma → Blume, boto → Bote, turi → Türe, ouga → Auge.

Auf diesen bunten Wort­ausgängen gründete das Beugungssystem der Substantive und damit auch das Genus. Allerdings hatte sich inzwischen der Artikel entwickelt. An ihm erkennt man das Genus auch, weshalb wir ihn in der Grundschule Geschlechtswort nennen: der Bot·e, die Blum·e, das Aug·e.

Die deutschen Artikelformen der, die, das sind einander unähnlich und vor Lautschmelze gefeit, im Englischen dagegen lauteten die Formen plötzlich the, the, that und mancherorts sogar thet. Die sächliche Form wurde schnell vor Hauptwörter jeden Geschlechts gestellt, die mit einem Vokal begannen, weil es sich so angenehmer sprechen ließ. Auch wir schätzen einen harten T-Laut aus Bequem­lich­keit an Stellen, wo er eigen·t·lich nicht hingehört. Diese Praxis ist in Phrasen wie that one oder that other erhalten, sonst hat sich that zu dem gemausert, was es heute ist:

Would you pass me that newspaper?
Könnten Sie mir die Zeitung geben?

Das war das Ende für das Genus im Englischen. Die Fürwörter he, she, it wurden neu zugeteilt, und zwar nach dem natürlichen Geschlecht. Twains Muttersprache hat wie alle anderen Sprachen vom Genus nur so viel preis­gegeben, wie sie musste. Von einer beson­nenen Reform oder dem Willen des Herrn kann keine Rede sein.

Der Yonis und das Lingam

Wir setzen unsere Suche nach El Dorado fort und reisen noch ein halbes Jahrtausend tiefer in die Vergangenheit. Aus Reiseflughöhe betrachten wir die Sprache der alten Griechen: Dinge wie oĩkos (Haus) oder krātér (Krug) sind männlich, die máchaira (Messer) ist weiblich, die Schnur sächlich (schoiníon), wenn sie nicht weiblich ist (seirá). Krátos, die Macht und Herrschaft, ist sächlich, die daraus erwachsene dēmokratía dagegen ausgerechnet weiblich, wo doch im alten Athen nur Männer mitmachen durften.

Die Unordnung reicht im Griechischen unverändert bis zu seinen frühesten Belegen in mykenischer Zeit im 14. Jahrhundert vor Christus zurück.

So tief in die Vergangenheit ragt auch die Sprache der Veden aus dem alten Indien. Der bekannteste Veda ist der Rigveda, ein Hymnus an Götter, die heute kaum noch in Indien angebetet werden und Teil des urindogermanischen Pantheons waren. Zum Beispiel Agnís, der Gott, der die Flammen züngeln lässt, wenn Sie samstags im Garten grillen.

Auch im Vedischen stoßen wir auf das bekannte Chaos. Die indische dvar ist so weiblich wie unsere Tür und die griechische thýra.

Die Sprache des Rigvedas liegt in seiner Entwicklung noch vor dem Sanskrit, einer später erschaffenen Kunstsprache, in der zum Beispiel das Kamasutra verfasst wurde, ein praktischer Leitfaden, wie man eine Frau anfasst, ohne sie dabei umzubringen.

Von den beiden Protagonisten im Kamasutra ist die Scheide der Frau (yónis) maskulin, der Penis des Mannes (lingam) ein Neutrum.

Hier, 3500 Jahre vor unserer Zeit, endet unsere Reise. Wir stehen am Anfang der Geschichte und blicken in das Dunkel der Vorzeit. Irgendwo da drinnen muss die Unordnung entspringen. Nur wie weit wäre es noch bis dorthin?

Unter Reisefotografen gibt es eine Weisheit: Auf der Suche nach einem Motiv hetzt man vorwärts, dabei liegen die Motive für außergewöhnliche Bilder immer hinter einem. Deshalb sollte man beim Vorwärtsmarschieren von Zeit zu Zeit einen Blick über die Schulter werfen.

Was erblicken wir dabei? Im Norden, im Süden, im Westen und im Osten, heute wie am Beginn der ersten Schriftquellen vor 3500 Jahren ist die Unordnung beim grammatischen Geschlecht überall gleich schlimm.

Nicht nur gleich schlimm im Ausmaß, sondern auch von gleicher Beschaffenheit: die Tür, die thýra, die dvar. So verblüffend gleich ist sie, dass diese Chäa – jetzt kennen Sie endlich die Mehrzahl von Chaos, die braucht man ja sonst kaum – nie und nimmer unabhängig voneinander entstanden sein können. Sie sind Nachkommen eines einzigen Urchaos.

El Dorado

Auf unserer Zeitreise sind wir hinter dem frühesten Deutsch zu einer Rundreise abgebogen. Wären wir geradeaus weitergeflogen in die Dunkelheit und hätten ein Italiener, ein Grieche und ein Inder die gleiche Reise von ihrer jeweiligen Muttersprache aus unternommen, dann träfen sich unsere Routen mitten im Herzen der Dunkelheit in einem Punkt.

Diesen Punkt nennt man Urindogermanisch.

Projektionspunkt Urindogermanisch

Es ist der Urahn aller indogermanischen Sprachen und war einst eine echte Sprache, die von echten Menschen eine Zeitlang gesprochen wurde. Diese Zeit endete spätestens vor fünftausend Jahren. Eine ungeheuerlich lange Zeit, die man sich am ehesten verdeutlichen kann, indem man sie durch das eigene Alter dividiert. Das Leben eines Vierzigjährigen passt 125-mal hinein.

Wenn sich das Geschlechterchaos in allen indogermanischen Sprachen findet, muss es aus dem Urindogermanischen ererbt und dort oder früher entstanden sein.

Der Mensch spricht nach aktuellem Forschungs­stand mit Gewissheit seit hundert­tausend Jahren, wahrscheinlich seit zwei­hundert­tausend Jahren und vermutlich noch viel, viel längerVideo-Tutorial: Wie ist die menschliche Sprache entstanden?. Dagegen reicht das Urindogermanische auf keinen Fall weiter als zehntausend Jahre in der Zeit zurück. Irgendwo in dieser Differenz von mindestens 90000 Jahren muss El Dorado liegen, das goldene Zeitalter.

Das klingt plausibel. Allerdings haben goldene Zeitalter neben ihrer Farbe eine weitere unabdingbare Eigenschaft: Es gibt sie nicht und es hat sie nie gegeben.

Obwohl die Sprecher des Urindogermanischen, die wir fortan aus Be­quem­lichkeit etwas unsauber Ur­indo­germanen nennen, schon so lange tot sind und zu Lebzeiten kein Wort geschrieben haben, hat die Indogermanistik ihre Sprache mit einer Genauigkeit und Verläss­lichkeit rekonstruiert, die einem den Atem raubt.

Bekanntlich läuft jedoch im Leben nie alles so, wie man es sich vorstellt. Davon macht auch die Rekonstruktion des Urindogermanischen keine Ausnahme.

Es gibt Passungenauigkeiten. Solche Unannehmlichkeiten sind nicht zu vermeiden, wenn man eine einst lebendige Sprache rekonstruiert. So ungelegen sie einem anfangs kommen, erweisen sie sich am Ende als Hilfe, weil sie aus dem Pro­jektions­punkt Urindogermanisch eine Fläche machen, auf der sich Strukturen erkennen lassen.

Das Deutsche besitzt drei Geschlechter:

der Mann, die Frau, das Ding
er, sie, es

Allerdings nicht überall: Das Fragepronomen wer, was besitzt nur zwei Formen. Eine feminine Form wie (wie in der, die, das) gibt es nicht. Bei ich und du gibt es gar kein Geschlecht.

Warum auch, werden Sie einwenden. Wenn ich jemand mit du anspreche, sehe ich ihm doch an, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Der Angesprochene weiß es ohnehin. Man spricht ja auch einen blonden Menschen nicht anders an als einen mit schwarzen Haaren.

Das kommt Ihnen logisch und natürlich vor, weil Sie es nicht anders kennen. Im Arabischen ist es dagegen ganz logisch und natürlich, einen Mann mit anta anzureden und eine Frau mit anti. Erklären Sie einmal einem Türken, warum wir zwischen er und sie unter­scheiden. Für ihn sind alle Menschen, Lebe­wesen und Dinge einfach o, für die Grönländer una, für die Finnen hän, für die Ungarn ő und für die Basken hura. Diese nicht­indo­germani­schen Nach­bar­spra­chen haben nicht nur kein Genussystem, sie unterscheiden auch bei den Fürwörtern nicht zwischen er, sie und es.

Liegt es denn nicht in der Natur des Fragens nach einer unbekannten Person, dass es neben wer keine weibliche Form wie gibt? Wer hat von meinem Teller­chen gegessen, fragt der Zwerg, ehe er Schnee­wittchen begegnet. Es hätte genauso gut der böse Wolf sein können. Ein guter Einwand, der jedoch nicht erklärt, warum das Einheitswort w·er wie d·er, dies·er, welch·er maskulin ist, die unbekannte Person aber grundsätzlich genauso gut eine Frau sein kann wie ein Mann. Und es gibt noch viel mehr, was dieser Einwand nicht erklärt.

Lateinische Adjektive haben gewöhnlich drei Formen:

Dreiendige Adjektive im Lateinischen
Maskulinum Femininum Neutrum
bon·us bon·a bon·um
(guter) (gute) (gutes)

Es gibt aber auch ungewöhnliche: * mit e aus i;
die Null steht hier und allgemein für Endungslosigkeit

Dreiendige Adjektive im Lateinischen
Maskulinum Femininum Neutrum
commūni·s commūni·s commūne·0*
(gemeinsamer) (gemeinsame) (gemeinsames)

Männlich und weiblich werden nicht unterschieden, genau wie bei unserem wer, das man auch im Lateinischen findet: quis.

Bei genauem Hinsehen stellen wir auch bei unseren Personalpronomen er, sie, es fest, dass sie darin fremd aussieht. Die feminine Form ist erst nachträglich von einem anderen Wortstamm gebildet worden.

Diese Trümmer haben eine überraschende Botschaft: Die drei Geschlechter sind nicht zugleich entstanden. El Dorado hat es nie gegeben. Damit fällt die ganze Idee, Männliches mit maskulinen, Weibliches mit femininen und Dinge mit neutralen Wörtern zu bezeichnen. Sie muss fundamental falsch sein.

Ein Experiment

Doch wo liegt der Irrtum? Wie alle großen Irrtümer liegt er auf der Hand. Wir können ihn mit einem Experiment entdecken. Das ist die Versuchsanordnung:

Maskulinum Femininum Neutrum
der Mann die Frau das Ding
der Junge die Braut das Gerät
der Onkel die Tante das Seil
der Löffel die Gabel das Messer
der Zahn die Zunge das Auge
der Apfel die Birne das Obst
der Eimer die Wanne das Becken

Das Versuchskaninchen sind Sie! Ihr Auftrag lautet: Wo wird beim Wort Mann das Männliche ausgedrückt, wo bei Frau das Weibliche, was ist an Ding sächlich? Legen Sie bitte den Finger auf die entsprechende Stelle.

Liegt er auf dem Artikel? Dort liegt er falsch. Der macht Mann nicht männlich. Dann müsste auch der Eimer männlich sein.

Aber darin besteht ja die Unordnung, werden Sie jetzt klagen. Na schön, bauen wir die Tabelle um und wiederholen das Experiment. Ihr Auftrag bleibt derselbe: Was macht den Mann männlich?

Spalte 1 Spalte 2 Spalte 3
der Apfel die Birne das Auge
der Eimer die Braut das Becken
der Junge die Frau das Ding
der Löffel die Gabel das Gerät
der Mann die Tante das Messer
der Onkel die Wanne das Obst
der Zahn die Zunge das Seil

Die Bedeutung des Wortes allein. Nicht die Grammatik, weder der Artikel vorn noch gegebenenfalls die Endung hinten, sondern der Rest in der Mitte, der Wortstumpf, oder fachmännisch: das Lexem. Die Bedeutung des Wortes selbst macht Mann männlich, weil Mann für den Mann steht. Und den Eimer zu einem Ding.

Ich kann Sie nur in die Irre führen, wenn ich Mann, Frau und Ding oben einsortiere und den Spalten falsche Namen gebe. Könnte ich Ihr Gedächtnis löschen und würde ich den Eimer an die Spitze rücken, würden Sie fragen: Welcher von meinen Vorfahren hat den Mann für einen Eimer gehalten?

Der Fehler steckt also in den Namen: Maskulinum, Femininum und Neutrum.

Sie gehen auf den griechischen Philosophen Protagoras zurück, der im 5. Jahr­hun­dert vor Christus lebte und der Menschheit viele tief­schürfende Er­kennt­nisse beschert hat: dass man Götter nicht sehen kann, dass man über eine Sache das eine oder auch das andere sagen kann, dass es im Grie­chischen drei bestimmte Artikel gibt: ho (männlich), (weiblich) und (Lebloses). Die dürfe man nicht durch­einander­bringen.

Wenn uns also Begriffe täuschen, die Protagoras erfunden hat, wie konnte Protagoras selbst in die Irre gehen?

Mit einem Trug, der nicht nur ihn fängt, sondern jeden Menschen und der den falschen Begriffen Maskulinum, Femininum und Neutrum erst ihre Wucht gibt.

Der ungesunde Menschenverstand

In unserem Gehirn sind Erkenntnismuster am Werk, die wir den gesunden Menschenverstand nennen. Gesund ist er, weil er uns minütlich vor einem unglücklichen Ende bewahrt.

Nehmen wir an, jemand möchte sich abends eine Bulette braten und holt das Hackfleisch aus dem Kühlschrank, das er am Vormittag gekauft hat. Es schimmert nicht wie erwartet rötlich, sondern gräulich. Der gesunde Menschenverstand sagt ihm: Wenn das Fleisch nicht so aussieht, wie er es erwartet hat, dann sollte er es nicht mehr essen.

Der andere Weg führt durch die Wissen­schaft. Er könnte erforschen, ob das Fleisch noch essbar ist. Zunächst sollte er beim Augenarzt untersuchen lassen, ob er nicht kurzfristig farbenblind geworden ist. Ist das Fleisch nach der Kalibrierung seiner Sehkraft immer noch gräulich, wirft er sich der Toxikologie in die Arme und hantiert in der Küche mit Pipetten und Petrischalen herum. Aber was nützt einem Erkenntnis, wenn man verhungert ist?

Der Menschenverstand ist dort gesund, wo sich die vertraute Welt im Alltag wiederholt. Gräuliches Fleisch ist oft verdorben und führt zu einer Lebens­mittel­vergif­tung. Die lässt sich zwar als Patient im Krankenhaus überstehen, schwerlich aber in der Feuchtsavanne Afrikas. Wenn unser gesunder Menschen­verstand lieber das Risiko eingeht, gutes Fleisch wegzuwerfen, als nach dem Verzehr von schlechtem Fleisch selbst zu gutem Fleisch für Hyänen und Löwen zu werden, liegt er im Mittel richtig, wo es ums eigene Überleben geht.

Jenseits dessen liegt er mit seinen Bewertungsroutinen über Ursache und Wirkung immer falsch. Wissenschaft ist daher nichts anderes als ein Bündel an Methoden, den gesunden Menschenverstand auszuschalten.

Liegen auf dem Mars drei Steine dämlich beieinander, erkennen wir darin ein Gesicht. So stark wie das Gesichtsschema ist unser Erkennen von Gegensätzen: frisch oder verdorben? Plus- und Minuspol. Licht und Dunkel.

Tatsächlich gibt es in der Welt aber gar keine wesenhaften Gegensätze. Die Dunkelheit ist nicht das Gegenteil von Helligkeit; es gibt Licht, und an der einen Stelle ist mehr davon, an der anderen weniger. Ein Lichtgefälle.

Weder gibt es einen Plus- noch einen Minuspol, sondern nur ein Gefälle von geladenen Teilchen wie Elektronen oder Ionen. In einem Leiter fließen sie dorthin, wo es weniger von ihnen gibt. (Die Elementarladungen und die Merkmale von Quarks wollen wir übergehen, aber rechnen Sie damit, dass sich auch auf diesem Urgrund nicht einzig und allein zwei spezifische Gegensätze gegenüberstehen.)

Unser Verstand erkennt draußen in der Natur Belebtes und Unbelebtes. Das Belebte teilt er in Männchen und Weibchen ein und gewinnt so drei Kategorien.

In der Grammatik finden sich für die Namen von allem, was es in der Welt gibt, ebenfalls drei Kategorien. Unser Verstand kann nicht anders, als sie übereinanderzulegen.

Geschlecht-Genus-Zuordnung

Das Weib, das Mädchen und das Frauenzimmer

Tatsächlich sind die Bezeichnungen für weibliche Geschöpfe im Deutschen feminin, sowohl Ableitungen wie Diebin, Bundeskanzlerin, Cousine, Souffleuse und Garderobiere als auch Frauenbezeichnungen, die nicht abgeleitet aussehen, zum Beispiel die Mutter, die Tochter, die Schwester, die Tante, die Oma, die Nichte, die Amme, die Braut, die Hure, die Nonne, die Witwe.

Wo Frauenbezeichnungen nicht feminin sind, handelt es sich um eine Trope, also um eine uneigentliche Verwendung eines Begriffs für eine Frau.

So kann ein Mann seine Frau seinen Schatz (Maskulinum) nennen, sie kann ihn als ihre große Liebe (Femininum) bezeichnen. Verkleinert die Frau den Schatz zu einem Schätzchen (Neutrum), wird daraus ein Kleinod, das ihr allein gehört und von dem nur sie weiß. Das steigert den Wert.

Nach diesem Schema sind Ehefrauen für Rheinländer grundsätzlich Neutra und nicht, weil sie ihre Frau mit Haushaltsgeräten wie einem Staubsauger verwechseln würden:

Hugo
Das Hertha tut mich gerade noch ein Bütterken, nichwa, Hertha?
Hertha
Ja, Hugolein, gleich krisseset!

Nun wundert es uns, wie Mark Twain so lange in Deutschland weilen konnte, ohne zu bemerken, dass auch das Mädchen eine solche Trope und alle Verkleinerungen auf ·chen im Deutschen Neutra sind.

Neben solchen Metaphern gibt es noch eine andere Trope, die man Metonymie nennt. Hierbei vergleicht man etwas nicht mit etwas anderem, sondern mit sich selbst, und zwar mit einem Teil oder dem größeren Zusammenhang. Wenn wir in den Nachrichten hören, das Weiße Haus habe mal wieder einem Land den Krieg erklärt, dann ist damit natürlich nicht das Gebäude gemeint oder der Gärtner oder der First Dog, sondern der Präsident, der im Inneren des Weißen Hauses residiert.

Auch Pharao ist eine Metonymie: Ägyptische Schreiber haben mit per aa (Haus großes → Palast) den König umschrieben, der eigentlich nisu genannt wurde. Diesen Ausdruck mieden sie, weil seine Erwähnung den Schreiber dazu zwang, ihm alle rituellen Titel und Glückwünsche anzufügen: König von Ober- und Unterägypten! Sohn der Sonne! Stier seiner eigenen Mutter! Leben, Heil, Gesundheit! Und endlos so weiter. Wo Papyrus doch so wertvoll war!

Im Dritten Reich stand Prinz-Albrecht-Straße für nichts anderes als das Hauptquartier der Gestapo und damit für Furcht und Schrecken. Obwohl dort bestimmt auch die ein oder andere liebe Oma wohnte.

Im Mittelalter traten vornehme Frauen nicht allein auf, sondern mit weib­lichem Gefolge. Weil es in denselben Räumen wie die Dame lebte, sprach man vom Frauen­zimmer und meinte damit die Frau darin, auf die es einzig ankam.

So bezeichnen wir heute ein Mitglied eines Vorstands als Vorstand, schließen also von der Instanz auf ein Mitglied. Das Geschlecht der Bezeichnung bleibt dabei stets unverändert und wird nicht an das biologische Geschlecht des Bezeichneten angepasst. Die abgeleitete Form Vorständin sucht man deshalb in Konzernen vergeblich. Auf so etwas kommt man nur aus ideologischen Motiven.

Eine Metonymie ist schließlich das Weib. Sein Ursprung liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem Ausdruck für die Gebärmutter.

Alle Bezeichnungen für Frauen sind also feminin, wenn sie keine Metaphern oder Metonymien sind. Das macht die beiden Dreifaltigkeiten Mann, Frau, Ding und Maskulinum, Femininum, Neutrum für unseren gesunden Menschenverstand zu einem eitel Karfunkelstein.

Wir dürfen es Mark Twain nicht verübeln, dass er daraus den Schluss zog, das Femininum sei erfunden worden, um die Frau in der Grammatik widerzuspiegeln, und das Maskulinum folglich für den Mann. Denn ein weiteres archaisches Schema unseres Verstandes erblickt immer und überall Motive. Reißt Sie nachts ein Geräusch aus dem Schlaf, das vom anderen Ende Ihrer Wohnung kommt, werden Sie auf Anhieb an einen Eindringling oder vielleicht sogar an ein Gespenst denken, dabei ist nur der Regenschirm im Flur umgekippt.

Es hätte aber auch ein Löwe sein können, der Ihnen auflauert! Ihr Verhalten reicht nämlich weit vor die heutige Lebensweise des Menschen zurück zu der Zeit vor über hundert­tausend Jahren, als unsere Vorfahren noch die afri­kani­sche Savanne durchstreiften. Es reicht sogar Mil­lionen Jahre zurück zu der Zeit, als der Bewegungs­apparat des Menschen noch nicht so aufs Weglaufen optimiert war, und eigentlich noch viel weiter bis zu den Anfängen des Nerven­systems schlecht­hin. Die älteste Routine des Menschen lautet: Wenn etwas ein Motiv hat, dann kann dieses Motiv nur darin bestehen, dass es einen fressen will. Deshalb ist es klug von unserem gesunden Menschenverstand, überall ein solches Motiv zu wähnen. Zur Not auch eines ohne Körper, denn nichts anderes ist ein Gespenst.

Obwohl wir heute kaum noch gefressen werden, wirkt der gesunde Men­schen­verstand weiter. Er lässt Kinder unter die Bettdecke kriechen, damit sie nicht von Monstern unter dem Bett gefressen werden. Er macht uns Erwachsenen die Vor­stellung schwer, dass das Universum ohne Schöpfer oder erste Ursache einfach so entstanden ist. Er macht es uns schwer, dem Augen­schein zu miss­trauen, obwohl wir immer wieder erleben, wie sehr einen der Augen­schein hinters Licht führen kann.

Die Spalten in unserem Experiment waren ziemlich kurz. Trüge man alle Hauptwörter des Deutschen ein, würden sie um einige hundert Meter wachsen und offenbaren, dass die Per­sonen­bezeich­nungen darin nur eine winzige Minderheit ausmachen. Wieso sollen gerade sie den Bezugs­rahmen für die Legion an Sach­bezeich­nungen vorgeben? Wie kommen all diese Sach­bezeich­nungen zu ihrem maskulinen und femininen Genus, wenn hinter diesem als Motiv Weib­lichkeit und hinter jenem Männlichkeit steckt?

Germania

War das zu viel Erkenntnistheorie? Dann habe ich eine Schauer­geschichte für Sie. Stellen wir uns vor, die deutsche Sprache wäre eine Halbgöttin, die leib­haftig und mit wallendem Haar oben auf der Loreley thronte, und Mark Twain wäre bei seinem Aufenthalt in Heidelberg die Gunst gewährt worden, zu ihr hinaufzuklettern und ihr eine einzige Frage zu stellen.

“O precious Germania!”, hätte er mit schlotternden Knien vor ihr stehend gesagt. ”The girl is a thing, the turnip is female? Why are sex and gender such a mess?“

Germania rührt sich nicht. Twain begreift, sie kann kein Englisch. Tatsächlich steht es noch schlimmer: Germania weiß nicht einmal, dass es die englische Sprache oder überhaupt eine andere Sprache neben ihr gibt, wie wir in einem späteren Kapitel herausfinden werden.

Twain wiederholt seine Frage auf Deutsch: „Das Mädchen ein Ding, die Rübe weiblich? Warum ist das Geschlecht bei dir ein solches Durch­einander?“

Er erwartet, Germania werde seufzen und dann mit rauer Stimme auf ihr enormes Alter verweisen, das man bei ihrem jugendlichen Aussehen leicht verkenne.

Germania gibt eine andere Antwort: Geschlecht, fragt sie mit der Stimme und der Neugier eines Mädchens, was solle das sein?

Erst bleibt Twain die Spucke weg, dann erklärt er ihr, beim Menschen und anderen Lebewesen gebe es Mann und Frau. Alles andere seien Dinge. Wie eben auch in der Sprache.

Germania betrachtet Twain irritiert. Menschen, Lebewesen, Mann und Frau, was solle das sein?

Während sich Twain den Kopf zerbricht, wie er all dies erklären soll, entschwebt Germania. Sie hat schließlich eine Menge zu tun.

Später wird Twain in seinem Stammgasthaus in Heidelberg bei einem Bier erzählen, Germania sei eine schöne Dame, nur leider reichlich verwirrt.

Insgeheim hat er den Verdacht, dass sie aneinander vorbeigeredet haben und er selbst es ist, der etwas Wichtiges nicht begreift.

Die Kiste in unserem Kopf

In Wirklichkeit gibt es Germania nicht. In Wirklichkeit ist Germania eine immaterielle Instanz unseres Denkens, die durch die Großhirnrinde und andere Bereiche unseres Gehirns erzeugt wird.

Nennen wir diese Instanz das Sprachzentrum. Hier werden Sätze konstruiert und dekonstruiert – ohne dass wir es bemerken, denn unser Bewusstsein bekommt von dem meisten, was sich in unserem Gehirn abspielt, nichts mit. Das Sprachzentrum verarbeitet Sätze in einer Geschwindigkeit, die kein Computer je erreichen wird. Es ist der Computerindustrie um drei Millionen Jahre voraus. Die Sprechfähigkeiten Ihres Computers gleichen dem von einem Orang-Utan. Oder meinte ich vielleicht Orangen in Utah?

Auch Mark Twain ist als Figur in meiner Schauergeschichte eine Instanz unseres Denkens. Die nennen wir unseren Verstand. Hier machen wir uns Gedanken über Gott und die Welt, teilen sie in belebt und unbelebt ein, gelangen zu der Ansicht, dass das Menschengeschlecht aus Frauen und Männern besteht, und stellen Fragen, wie sie sich Twain gestellt hat.

Zwar gibt es zwischen den beiden Instanzen eine Schnittstelle, die es uns ermöglicht, unsere Gedanken in Worte zu fassen oder umgekehrt darüber nachzudenken, was uns andere erzählen, doch darüber hinaus bleibt unserem Verstand jeder Einblick ins Sprachzentrum verwehrt. Das gilt auch umgekehrt: Germania hat keinen Schimmer, was eine Frau ist. Frau ist für sie nicht mehr als eine Folge aus zwei Konsonanten und einem Zwievokal: /frau/. Dafür weiß sie, warum die Mehrzahl Frauen und nicht Fraue, Fraus oder Frauer lautet. Unser Verstand weiß es nicht.

Das fällt dem Menschen schwer zu glauben. Weil die Sprache in seinem Kopf steckt, bildet er sich ein, sie zu durchblicken.

Ein einfacher Test beweist das Gegenteil: Ohne nachzudenken, können Sie all die Wörter auf dieser Buchseite aussprechen und betonen wie jeder andere Leser. Offenkundig gehen Sie dabei nach Regeln vor, die in Ihrem Kopf stecken. Sie können diese Regeln zwar anwenden, aber nicht formulieren.

Weil sie in einer Kiste stecken, deren Inneres verborgen ist. Die Kiste hat einen Schlitz, in den man etwas hineinstecken kann und aus dem man wieder etwas zurückerhält.

Sprachwissenschaft ist nichts anderes als der Versuch, das Innere der Kiste nachzubauen, ohne je hineinschauen zu können, indem man so lange Eingaben mit Ausgaben vergleicht, bis sich eine Spur ergibt und schließlich die Rekonstruktion das Gleiche ausgibt wie die Originalkiste. Oft gelingt das aber nicht. An der Betonung des Deutschen forscht man seit Jahrzehnten ohne Erfolg. Bisher ist es nicht gelungen, sie mit einer Regel zu beschreiben. Was man Ausländern im Deutschunterricht andreht, ist Pfusch, der leidlich funktioniert, bis das Gehirn des Ausländers ein deutsches Sprachzentrum gebildet hat, das die Angelegenheit übernimmt. Es gerät aber nie so perfekt wie das seiner Muttersprache.

Zu dieser Schwierigkeit kommt ein Übel, das nicht nur Mark Twain und Guy Deutscher zugestoßen, sondern dem menschlichen Verstand schlechthin eigen ist: Wenn sich eine Sache als anders erweist, als wir es erwartet haben, halten wir nicht unsere Erwartung für falsch, sondern die Sache.

Wir Menschen denken so, weil es uns im Alltag nutzt. Solange es um Hackfleischangelegenheiten geht. Wenn uns etwas Unerhörtes begegnet, verkennen wir sein wahres Wesen und lassen die Routine in unserem Kopf einfach weiterlaufen.

In der neunten Klasse hatte ich einen Physiklehrer, der aussah wie Sigmund Freud und einen weißen Laborkittel trug. Auf dem Pult lag stets ein zum Zerbersten dickes Schlüsselbund griffbereit, das er durchs Klassenzimmer warf, wenn ein Schüler mit seinen Gedanken abschweifte oder zum Fenster schielte.

Gab ein Schüler das Ergebnis einer Berechnung bekannt, fragte der Lehrer: „Kartoffeln, oder was?“ Und der Schüler fügte hinzu: „Kilojoule durch Voltmeter im Quadrat, Herr Lehrer!“

Dann grunzte der Lehrer zufrieden. Er gab sich große Mühe, uns beizubringen, dass physikalische Einheiten kein Ballast waren, sondern dem Ergebnis einer Berechnung erst ihren Sinn gaben.

Die Schlampigkeit von Schülern war dem Lehrer solche Routine, dass er von ihnen nichts anderes erwartete. Als ein Schüler ein Ergebnis von zwanzig Stundenkilometern bekanntgab, bekam er nicht die Kartoffel zu spüren, sondern das Schlüsselbund. Denn es handelte sich um einen vorsätzlichen, ja, einen dreisten Fall von Schlampigkeit.

Nicht Stundenkilometer habe es zu heißen, sondern Kilometer durch Stunde. Die Geschwindigkeit sei der Quotient von Strecke durch Zeit und nicht das Produkt.

Rückblickend war das mein erster Tag als Sprachwissenschaftler. Ich fragte nämlich, ob Sonnentage das Produkt aus Sonnen und Tagen sei, also Sonnen mal Tage. Weil das Schlüsselbund nicht mehr auf dem Pult lag, sondern an der Rückwand des Klassenzimmers, fuhr ich forsch fort: Sind Sonnentage nicht alle Tage, an denen die Sonne scheint, also der Quotient?

Ist eine Haushaltsabgabe das Produkt aus Haushalt und Abgabe oder nicht eher die Abgabe pro Haushalt? Ist der Jahresetat das Produkt aus Haushalt mal Etat, oder nicht eher ein Etat per annum, für ein Jahr?

Der Physiklehrer hatte den Fehler begangen, seine algebraische Routine auf die Sprache zu übertragen: Wenn ab gleich a×b ist, dann ist Stundenkilometer gleich Stunden×Kilometer. Er verkannte, dass die Wortbildung Regeln folgt, die in ihrer Präzision der Algebra in nichts nachstehen, aber anders sind, als er erwartet hatte.

In der Sprache ist nichts, wie es scheint. Wir können sie nicht aus unserem Verstand durchblicken, sondern müssen sie erforschen. Das Forschungsergebnis fällt immer erstaunlich anders aus, als man erwartet hat.

Diese Maxime gilt für alle Fragen, die wir in diesem Buch ergründen werden, nicht nur für sprachkundliche, sondern auch für stilistische und orthografische. Sollten Sie einmal mit einem Detail der deutschen Sprache hadern, dann sollten Sie davon ausgehen, dass etwas anderes dahintersteckt, als Sie unterstellen.

Behalten Sie das bitte im Hinterkopf – noch eine mysteriöse Instanz unseres Denkens: der Hinterkopf! –, wenn wir jetzt erforschen, wie das grammatische Geschlecht entstanden ist und bis heute im Deutschen funktioniert. Und machen Sie sich auf eine Überraschung gefasst.

✿ Ende der Leseprobe