Speisekarte oder Speisenkarte?
deklination
Warum heißt es ›Speisekarte‹, obwohl es doch auch ›Getränkekarte‹ heißt? Über normale und motivierte Zusammensetzungen im Deutschen und die Rolle von Fugenelementen.
Dauer: 28 Minuten.
Normale Wortbildung: Speisekarte
Es heißt allein Speisekarte und nicht Speisenkarte
, weil es sich um eine Zusammensetzung mit dem Verb speisen
handelt.
- reden → Redefreiheit
- würgen → Würgereflex
- zeigen → Zeigefinger
- heben → Hebearm
- nagen → Nagetier
- wagen → Wagemut
- blasen → Blasebalg
- nachschlagen → Nachschlageverb
Das gilt für alle Zusammensetzungen mit Speise∙
:
- Speisezimmer (vgl. Eßzimmer, Eßlöffel)
- Speisesaal
- Speisekartoffel
- Speisewagen (der Wagen, wo man speist, und nicht der Wagen, in dem es Speisen gibt)
Der Bindelaut bleibt tendenziell (Blasebalg
, aber Blaskapelle
) dort erhalten, wo der Stamm der Vorderglieds auf einen stimmhaften Verschlußlaut oder wie bei speisen
auf stimmhaftes s
endet. Dagegen:
- Platzpatrone
- Sparschwein
- Spürnase
- Duschgel
- Weckruf
- Malkasten
Motivierte Wortbildung: Speisenkarte
Bei Speisenkarte handelt es sich wie bei allen Zusammensetzungen mit einer Pluralform im Vorderglied um eine motivierte Bildung. Ihr liegt ein außersprachlicher Gedanke (Motiv) zugrunde: Auf der Karte sind mehrere Speisen aufgeführt. → Das Vorderglied soll in der Mehrzahl stehen.
Beim Geschäftemacher
handelt es sich um einen, der aus allem ein Geschäft und daher viele Geschäfte macht. Die normale, unmotivierte Bildung wäre Geschäftsmann
und Geschäftsfrau
, wobei das Fugenelement s
keinen Genitiv ausdrückt, sondern steht, weil das Vorderglied auf t
endet (vgl. Gebotsschild, Gebietsanspruch
versus Gehirnoperation, Gehörgang
).
Das Geisterschloß
ist eine motivierte Bildung, weil die normale Bildung Geistschloß
das Schloß selbst zum Geist machen würde. Das Geisterschloß ist jedoch ein leibliches Schloß mit Geistern darin.
So heißt es Speisekammer
, obwohl in dieser Kammer nicht gespeist wird, sondern Speisen gelagert werden. Die motivierte Bildung wäre Speisenkammer
. Auch der Speisenaufzug
ist eine motivierte Bildung sowie die Gästeliste
.
Dieser Irrtum wird gestärkt durch die Getränkekarte
, die als motivierte Pluralbildung aufgefaßt wird. Tatsächlich finden man das Fugenelement e
bei allen Zusammensetzungen mit Getränke-
, zuerst beim Getränkemaß
, einer Bezeichnung für Hohlmaß (wieviel man einfüllen = getränken kann). Das Fugenelement ist keine Pluralendung und geht auch nicht auf eine Pluralendung zurück.
Alle Zusammensetzungen mit dem Fugenelement n
sind ebenfalls niemals Pluralbildungen, sondern gehen auf alte schwache Genitive zurück: Sonnenfinsternis, Stundenkilometer
.