Speisekarte oder Speisenkarte?
deklination
Warum heißt es ›Speisekarte‹, obwohl es doch auch ›Getränkekarte‹ heißt? Über normale und motivierte Zusammensetzungen im Deutschen und die Rolle von Fugenelementen.
Dauer: 28 Minuten.
Video veröffentlicht am 30.01.2013 (39.79 MB).
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Normale Wortbildung: Speisekarte
Es heißt allein Speisekarte und nicht Speisenkarte
, weil es sich um eine Zusammensetzung mit dem Verb speisen
handelt.
- reden → Redefreiheit
- würgen → Würgereflex
- zeigen → Zeigefinger
- heben → Hebearm
- nagen → Nagetier
- wagen → Wagemut
- blasen → Blasebalg
- nachschlagen → Nachschlageverb
Die Speisekarte, früher auch Speisezettel
, ist eine Karte, die man beim Speisen verwendet, und keine Karte, auf der Speisen aufgeführt sind.
Das gilt für alle Zusammensetzungen mit Speise∙
:
- Speisezimmer (vgl. Eßzimmer, Eßlöffel)
- Speisesaal
- Speisekartoffel
- Speisewagen (der Wagen, wo man speist, und nicht der Wagen, in dem es Speisen gibt)
Der Bindelaut bleibt tendenziell (Blasebalg
, aber Blaskapelle
) dort erhalten, wo der Stamm der Vorderglieds auf einen stimmhaften Verschlußlaut oder wie bei speisen
auf stimmhaftes s
endet. Dagegen:
- Platzpatrone
- Sparschwein
- Spürnase
- Duschgel
- Weckruf
- Malkasten
Motivierte Wortbildung: Speisenkarte
Bei Speisenkarte handelt es sich wie bei allen Zusammensetzungen mit einer Pluralform im Vorderglied um eine motivierte Bildung. Ihr liegt ein außersprachlicher Gedanke (Motiv) zugrunde: Auf der Karte sind mehrere Speisen aufgeführt. → Das Vorderglied soll in der Mehrzahl stehen.
Beim Geschäftemacher
handelt es sich um einen, der aus allem ein Geschäft und daher viele Geschäfte macht. Die normale, unmotivierte Bildung wäre Geschäftsmann
und Geschäftsfrau
, wobei das Fugenelement s
keinen Genitiv ausdrückt, sondern steht, weil das Vorderglied auf t
endet (vgl. Gebotsschild, Gebietsanspruch
versus Gehirnoperation, Gehörgang
).
Das Geisterschloß
ist eine motivierte Bildung, weil die normale Bildung Geistschloß
das Schloß selbst zum Geist machen würde. Das Geisterschloß ist jedoch ein leibliches Schloß mit Geistern darin.
So heißt es Speisekammer
, obwohl in dieser Kammer nicht gespeist wird, sondern Speisen gelagert werden. Die motivierte Bildung wäre Speisenkammer
. Auch der Speisenaufzug
ist eine motivierte Bildung sowie die Gästeliste
.
Die motivierte Bildung Speisenkarte
ist in der Allgemeinsprache unüblich. Sie ist zudem unsinnig, weil sie gegenüber der normalen Bildung Speisekarte
keine zusätzliche Information enthält, die sich nicht schon aus der Natur der Sache ergäbe. Im Gegensatz zum Geschäftemacher
ist bei der Speisekarte ohnehin klar, daß darauf mehr als eine Speise verzeichnet ist.
Auch bei gesteigertem kulinarischem Interesse sollte man deshalb von Speisekarte
sprechen.
Falsch ist die Annahme, Speisenkarte
wäre korrekter als Speisekarte
, oder eine Speisekarte
könnte nur eine einzige Speise enthalten. In der normalen Wortbildung gibt es die Dimension Numerus nicht.
Dieser Irrtum wird gestärkt durch die Getränkekarte
, die als motivierte Pluralbildung aufgefaßt wird. Tatsächlich finden man das Fugenelement e
bei allen Zusammensetzungen mit Getränke-
, zuerst beim Getränkemaß
, einer Bezeichnung für Hohlmaß (wieviel man einfüllen = getränken kann). Das Fugenelement ist keine Pluralendung und geht auch nicht auf eine Pluralendung zurück.
Alle Zusammensetzungen mit dem Fugenelement n
sind ebenfalls niemals Pluralbildungen, sondern gehen auf alte schwache Genitive zurück: Sonnenfinsternis, Stundenkilometer
.
Empfehlung
Motivierte Bildungen sollten seltene Ausnahmen sein. Machen Sie also aus der Nußtorte keine Nüssetorte, aus dem Astwerk kein Ästewerk und aus dem Vogelnest kein Vögelnest. Denn die Wortbildung des Deutschen funktioniert nach anderen Regeln, die nicht leicht zu durchschauen sind.