Stuttgart∙er Bahnhof, Berlin∙er Luft, Land der Bay∙er∙n
In ›Berliner Luft‹ steckt dasselbe Wortbildungselement wie in ›Bajuware‹ und in ›Canterbury‹.
Welche Wortart sind Ableitungen von Ortsnamen auf ∙er
?
- Stuttgart∙er Bahnhof
- Nürnberg∙er Bratwürsteln
- Berlin∙er Luft
- Schweiz∙er Käse
Sind es Adjektive? Ein unnötiger Bahnhof
→ Stuttgarter Bahnhof.
Oder sind es Genitive? Schweizer Käse
→ der Käse der Schweizer.
Aber die Berliner Luft
ist doch nicht die Luft der Berliner
, sondern die Luft in Berlin
. Außerdem heißt auch im Englischen the New Yorker
, und dort gibt er keine Genitive auf ∙er
.
Es sind Genitive. Wir haben es mit dem Genitiv Plural von Einwohnernamen zu tun, nicht mit Adjektiven. Der Stuttgarter Bahnhof ist der Bahnhof der Stuttgarter. Es handelt sich um den Genitiv Plural des germanischen Suffixes ∙wari
, mit dem Einwohnernamen gebildet wurden:
Das Suffix steckt auch in Bürger
, dessen Ausgang nicht mit dem in Fahrer, Lehrer, Lügner
zu vergleichen ist. Wahrscheinlich ist ∙wari
mit dem Verb wesan
sein (leben)
verwandt (vgl. gewesen, war, wäre
usw., isländisch vera
und schwedisch vara
, beides sein
). Bürger ist also, wer in der Stadt lebt.
Der althochdeutsche Ausgang ∙āri
(bairisch-∙ări
(rheinfränkisch) mündet in neuhochdeutschen Nominativformen wie ein Berliner, ein Stuttgarter, ein Bayer
. Zu Bayer
(althochdeutsch Baiari
) entwickelt sich ein schwacher Plural die Bayern
, der identisch ist mit dem Namen des Landes Bayern
. Das Land Bayern ist die Bayern
, so wie Athen im Griechischen die Athener
ist.
Der Ausgang ∙āri
lautet im Althochdeutschen im Genitiv Plural →āro
. An dieser Endung können wir an althochdeutschen Belegen genau festmachen, daß es sich tatsächlich um den Genitiv Plural handelt. Erst durch die Vokalschwächung im Mittelhochdeutschen fällt der Genitiv Plural ∙aro
lautlich mit dem Nominativ Singular ∙ari
zusammen: ∙ære
. Deswegen klingt ein Stuttgarter
heute mit Stuttgarter Bahnhof
gleich.
Das Suffix ist auch in anderen germanischen Sprachen weitergeführt, zum Beispiel in isländisch Þjóðverji
Deutscher
. Der Bajuware
bezieht sich als Stammesbezeichnung auf die Zeit, als das Suffix noch ∙wari
lautete.
Im Englischen steckt das Suffix verhüllt in vielen Ortsnamen, zum Beispiel Canterbury
aus altenglisch Cant∙
Stadt der Kenter
, also der Einwohner von Kent. Das germanische burg
bezeichnet eine befestigte Stadt, so in gotisch baúrgs
, skandinavisch borg
(vgl. Göteborg
und isländisch höfuðborg
Hauptstadt
) sowie englisch borough, burrow, ∙bury
, dem aber im Hochmittelalter das aus dem Französischen importierte city
(aus französisch cité
aus lat. civitatem
) den Rang abläuft. Auch im Deutschen ist burg
das ganze Mittelalter hindurch eine befestigte Stadt, im Gegensatz zur unbefestigten stat
.
Das germanische Suffix ∙wari
wird im Althochdeutschen zu ∙āri
und fällt damit lautlich mit einem anderen Suffix zusammen, das aber von lateinisch ∙arius
kommt und und viel häufiger ist. Damit bildete man wie heute Nomina-
- ahd.
fiskāri
→Fischer
- ahd.
lugināri
→Lügner
- ahd.
helfāri
→Helfer
- ahd.
scrībāri
→Schreiber
- ahd.
lērāri
→Lehrer
Diese Bildungen wurden in allen Zeiten stark dekliniert:
- der Lehrer, des Lehrers, die Lehrer
Bei den Bayern
findet man noch im Althochdeutschen den starken Plural die Beiara
, woraus später Baiere
wurde. Wegen des Ausgangs ∙er∙e
wurde das Wort im Bairischen der schwachen Deklination (vgl. der Bot∙e, der Jung∙e
) aufgeschlagen, woraus sich wie bei Sachse
ein Plural auf ∙n
ergibt. Alle ähnlichen Bildungen wie der Berliner, die Thüringer, der Schweizer
sind erst später gebildet worden, als aus ∙ere
längst ∙er
geworden war. Sie werden allesamt stark gebeugt und können daher im Plural nicht auf ∙n
ausgehen.
Ebenso ist es wohl im Englischen. The Londoner
und the New Yorker
sind eher nach baker, drinker, fisher
(mittelenglisch bākere, drincere, fischere
) gebildet, als daß sie auf ∙wari
zurückgehen. Ich bin mir in diesem Punkt aber nicht sicher.
Nicht zu wari∙
Bildungen wie Canterbury
zählen Städtenamen wie Manchester
. Darin steckt das römische castrum
. Es handelt sich nämlich um ein Castrum, das auf einem Hügel errichtet ist, der wie eine Titte (keltisch: mamm
, vgl. Mammo∙
) aussieht. Für Fans von Bayern München und Borussia Dortmund ist es für kommende Championsleaguespiele durchaus nicht uninteressant zu wissen, daß es sich bei den Anhängern von ManU etymologisch strenggenommen um Muttersöhnchen, die auf einem Hügel leben, der wie eine Titte aussieht, handelt.