Wiesn, Haxn, Brezn
Bairische Feminina wie ›Wiesn‹ werden gern als Pluralformen verkannt (Wiesen) und dann auch noch mit Apostroph geschrieben (Wies’n). Mundart ist jedoch keine verstümmelte Hochsprache und der Apostroph immer falsch. Tatsächlich hat das Oberdeutsche die Beugung weiblicher Substantive seit dem Mittelalter nur anders weiterentwickelt als die mitteldeutsche Standardsprache.
Bayern bezeichnen das Münchner Oktoberfest als Wiesn. Nichtbayern wundern sich über das n
am Wortende und deuten den Ausdruck als Pluralform, weil es standardsprachlich eine Wiese, zwei Wiesen
heißt.
Diese Erklärung ist falsch, wird aber sogar von Grammatiken des Bairischen verbreitet:
Im Gegensatz zum Hochdeutschen [Anm. von BL: Gemeint ist nicht Hochdeutsch, sondern Standarddeutsch] gibt es in der bayrischen Sprache keine Hauptwörter auf '-e': 'Nase' - 'Nosn', 'Straße' - 'Strass', 'Suppe' - 'Subbn'.
Die zusätzlichen -n-Endungen erklären sich wahrscheinlich, wie zahlreiche -e- und -n-Bildungen der Standardsprache, als reanalysierte ehemalige Pluralformen.
Erste ausführliche Online-Grammatik der Bayrischen Sprache Externer Link zur Quelle
Wer das Bairische — die Sprache wird immer mit ai
geschrieben — nicht kennt, gerät dadurch noch in Versuchung, einen Apostroph einzubauen: Wies’n
. Dialekt ist aber grundsätzlich keine verstümmelte oder schlampige Standardsprache, der ApostrophApostroph in Dialekt und Mundart hat dort also nicht zu suchen. Es gibt die Form Wiesen
im Bairischen nicht, deshalb wird Wiesn
weder im Singular noch im Plural mit Apostroph geschrieben.
Der Grund für die vielen weiblichen Substantive auf n
im Bairischen liegt im Übergang vom Mittel- zum Neuhochdeutschen. Das Standarddeutsche und das Bairische haben bei der Beugung femininer Substantive verschiedene Wege eingeschlagen.
Beugung der Feminina im Standarddeutschen
Das Deutsche trennt zwei fundamentale Beugungen der Substantive, die starke und die schwache DeklinationTutorial: Deklination der Substantive im Deutschen. Die Endungen beider Flexionsarten unterscheiden sich im Althochdeutschen noch stark, im Mittelhochdeutschen sind sie durch die Abschwächung bunter Vokale zu e
in unbetonten Silben und Veränderungen bei den Konsonanten einander sehr ähnlich geworden. Das führt zu folgendem Bild. Die markierten Formen zeigen Formen, die sich vom heutigen Deutsch unterscheiden:
Beugung weiblicher Substantive im Mittelhochdeutschen | ||
---|---|---|
Singular | stark | schwach |
Nominativ | diu wīs∙e | diu zung∙e |
Akk. Sg. | die wīs∙e | die zung∙en |
Dat. Sg. | der wīs∙e | der zung∙en |
Gen. Sg. | der wīs∙e | der zung∙en |
Plural | stark | schwach |
Nom. Pl. | die wīs∙e | die zung∙en |
Akk. Pl. | die wīs∙en | die zung∙en |
Dat. Pl. | den wīs∙en | den zung∙en |
Gen. Pl. | der wīs∙en | der zung∙en |
Dieser Zustand ist auf die Dauer natürlich nicht zu halten. Deswegen wird im Übergang zum Neuhochdeutschen die Unterscheidung zwischen starker und schwacher Beugung bei weiblichen Substantiven aufgegeben.
Feminina enden von nun an entweder auf ∙e
wie die Zunge, die Sache, die Gabe, die Wende, die Wiese
oder sind endungslos wie die Nadel, die Schmach, die Leber, die Saat
. Diese Grundform gilt für alle Kasus im Singular, wie es einst nur bei starken Feminina war. Der Plural ist dagegen für alle Feminina schwach und endet auf ∙en
.
Deklination weiblicher Substantive im Neuhochdeutschen | |
---|---|
Singular | Plural |
die Wies∙e | die Wies∙en |
die Zung∙e | die Zung∙en |
In der Standardsprache haben Feminina also nur noch zwei Endungen: eine für den Singular ∙e
(eine kleine Gruppe ist endungslos: Stadt, Frau, Saat
) und eine für den Plural ∙en
. Die Standardsprache verstärkt also den Kontrast im Numerus.
Beugung der Feminina im Bairischen
Das Bairische löst die verwickelte Lage im Mittelhochdeutschen anders auf: Bei den schwache Feminina wie diu zunge, der zungen, die zungen
wird die Form der obliquen Kasus zungen
nicht an die Grundform angeglichen zunge
, sondern umgekehrt die Grundform an die obliquen Kasus.
Oblique Kasus sind Dativ, Akkusativ und Genitiv, also alle Kasus außer dem Nominativ.
So wird aus mittelhochdeutsch diu zunge, der zungen, die zungen
im neuzeitlichen Bairisch Zung∙n
. Alle starken Feminina auf ∙e
werden zudem zu schwachen Substantiven gemacht: mittelhochdeutsch diu wīse, der wīse, die wīse
wird zu neubairisch Wiesn
. Endungslose starke Feminina wie Nadel
erhalten in der Grundform kein ∙n
.
Während die Standardsprache also den Unterschied im Numerus betont, macht das Bairische das nicht. Weibliche Substantive auf ∙n
sind in allen Kasus und Numeri unveränderlich:
oa gmaade Wiesn
eine gemähte Wiese
zwoa gmaade Wiesn
zwei gemähte Wiesen
drai gmaade Wiesn
drei gemähte Wiesen
Beispiele für weibliche Substantive auf ∙n
:
die Haxn
die Schweinshaxe
die Brezn
die Brezel
die ojde Schlampn
die alte Schlampe
die Brazn
die Hand
die Wambn
der Bauch
die Bixn
das Weibsbild
die Globiaschdn
die Klobürste
Ein Anwendungsbeispiel:
Wenn bei einem Wort bereits die Wurzel auf n
ausgeht, wie in d sonn
die Sonne
, greift das Bairische auch auf standardsprachliche Formen zurück. Dabei wird ∙e
im Auslaut aber zu ∙a
: Wenn d∙sonna scheint, geht die ojde henna auf d∙Wiesn
Wenn die Sonne scheint, geht die alte Henne (Frau) auf die Wiesn
.
Einige Substantive wie die Sach
haben kein n
. Wenn das in der Grundform der Fall ist, ist es auch im Plural so: Håstu mei Sach gseng?
Hast du meine Sache gesehen?