Des Tags oder des Tages?

Des Tags oder des Tages?

Endet der Genitiv starker maskuliner und neutraler Substantive auf ›∙s‹ oder ›∙es‹? Wir sehen uns die Genitivendung bei Fremdwörter, Substantivierungen, Personennamen, festen Wendungen und Erbwörtern mit unterschiedlichem Stammausgang an.

∙s versus ∙es

Endet der Genitiv starker maskuliner und neutraler Substantive auf ∙s oder ∙es: des Tags oder des Tages?

Im Althochdeutschen und im Mittelhochdeutschen lautet die Endung starker Maskulina und Neutra ∙es, doch findet sich schon im Mit­tel­hoch­deut­schen die Kür­zung zu ∙s, be­son­ders bei Wörtern auf ∙l oder ∙r:

des spils sie do spilten, daz engalt niht mere wan beide lip und ere

Der Stricker: Daniel von dem blühenden TalExterner Link zu Wikipedia: Der Stricker und sein Roman Daniel von dem blühenden Tal

Daraus breitet sich die Kurzform ∙s im Frühneuhochdeutschen aus und herrscht im damaligen hochdeutschen Sprachgebiet (was südlich von Düs­sel­dorf und Magde­burg liegt) allgemeinsprachlich und dichtersprachlich vor, im Ober­deut­schen (Bairisch und Allemannisch) gänzlich, im Mit­tel­deut­schen (Frän­kisch und Sächsisch) etwas weniger. Von hier geht auch das Come­back der Langform ∙es aus. Bei Luther ist es gut zu beobachten.

Im Spätneuhochdeutschen des 19. und frühen 20. Jahr­hun­derts galt die Lang­form ein­silbi­ger Wör­ter des Tages, der Wortes als nor­mal, wäh­rend die Kurz­for­men des Tags, der Worts nicht etwa als all­tags­sprach­lich und schlu­drig gal­ten, wie man ad hoc an­neh­men könnte, sondern vor allem in der Dich­tung er­schie­nen.

Erst in den letzten Jahrzehnten nimmt die Kurzform im All­tag wieder zu: des Tags statt des Tages. Zugleich ist im Dativ das ∙e ge­schwun­den: dem Tage → dem Tag. So ergibt sich ein Sys­tem, bei dem ∙e∙ im Sin­gular nicht, im Plural immer erscheint: der Tag, den Tag, den Tag, des Tags versus die Tage, den Tagen, der Tage.

Bei mehrsilbigen Wörtern wird grundsätzlich die Kurz­form be­vor­zugt: des Mo­nats, des Schick­sals, des Ver­rats, des Ge­bäcks, des Stock­werks.

Bei Zu­sam­men­set­zun­gen war bis vor kur­zem auch die Lang­form be­liebt, wenn das Haupt­ele­ment auch als Sim­plex gän­gig war: des Schlag(e)s, des Anschlag(e)s, des Zuschlag(e)s, des Verschlag(e)s.

Grundsätzlich gilt heute: Mehrsilbige Substantive haben all­gemein die Kurz­form: des Monats. Ein­sil­bige Sub­stan­tive kön­nen ein­sil­big blei­ben des Bergs oder zwei­sil­big ge­macht werden des Ber­ges — das liegt im Er­mes­sen des Spre­chers. Beide For­men sind gleich­rich­tig.

In einigen Fällen ist jedoch allein die Kurzform oder die Langform richtig:

Genitivendung bei Substantivierungen

Substantivierungen haben immer nur die Kurzform: des Ichs (falsch ist na­tür­lich des Ich), die Kunst des Lie­bens.

Genitivendung bei Fremdwörtern

Fremdwörter haben immer die Kurzform: des Sports, des Macs. Die Lang­form des Spor­tes ist hyper­korrek­tes Spre­chen.

Genitivendung im festen Wendungen

In Wendungen, die aus der Zeit stammen, als die Kurzform vorherrschte, bleibt die Kurz­form der Wen­dung immer kurz: von Rechts wegen, des Tags und des Nachts. Hierzu ge­hö­ren auch Genitive, die heute als lexi­kali­sier­te Ad­ver­bien gel­ten und klein­geschrie­ben wer­den: abends.

Genitivendung nach dem Ausgang des Wortstamms

Genitivendung bei Stämmen auf /s/

Geht die Grundform eines Substantivs auf /s/ aus, lautet die Ge­ni­tiv­form immer ∙es:

Genitivendung bei Stämmen auf Sonoranten

Bei Wörtern auf ∙el, ∙em, ∙en, ∙er lautet die Genitivendung ausschließlich ∙s, da bei solchen Wörtern das e in sämt­lichen De­klina­tions­endun­gen ausfällt.

Deklination von Substantiven auf ∙el, ∙em, ∙en, ∙er
  richtig falsch
Nom. Sg. der Engel∙Ø  
Akk. Sg. den Engel  
Dat. Sg. dem Engel  
Gen. Sg. des Engel∙s des Engel∙es
Nom. Pl. die Engel∙Ø die Engel∙e
Akk. Pl. die Engel∙Ø die Engel∙e
Dat. Pl. den Engel∙n den Engel∙en
Gen. Pl. der Engel∙Ø der Engel∙e

Zum Beispiel:

Genitivendung bei Stämmen auf Vokal

Geht die Grundform eines Substantivs auf einen Vokal aus, lautet die Ge­nitiv­form immer ∙s:

Hierzu zählen auch Akronymschreibungen, weil die Namen der Buchstaben im Deutschen meist auf Vokal enden. Entscheidend für die Beugung ist allein die Lautung des Wortes (/Be-em-we/) und nicht die Schreibung (BMW):

Die Verwendung von AkronymwörternTutorial: Akronyme richtig schreiben und beugen. als invariante Siglen ist nur in der Jus­tiz und anderen Fach­spra­chen erlaubt: unsere AGB. In der All­gemein­spra­che hat das nichts zu suchen. Hier wird die En­dung ge­spro­chen und ge­schrie­ben: /des be.em.wes/ des BMWs (falsch: /des be.em.we/ des BMW). Denn /be­em­we/ ist ein nor­ma­les Sub­stan­tiv, das sich gram­mati­ka­lisch nicht von /haus/ un­ter­schei­det.

Genitivendung bei Personennamen

Alle Personennamen haben die Endung ∙s: Peters, Knuts, Sandras.

Tritt ein Adjektivattribut zum Namen, geht der bestimmte Artikel voran. Männernamen verlieren hier oft die ganze Endung, Frauen­namen sind in die­sem Syn­tagma seit jeher en­dungs­los: des jun­gen Wer­ther(s), der jungen Hilde. Fal­sche For­men wie des Wer­ther(s) oder des Peter Huber hört man seit je­her nur von Spre­chern mit schwer­wiegen­den gram­matika­lischen De­fi­ziten.