Meinetwegen wegen mir
genitiv
Die Genitivwoche geht weiter! Diesmal geht es um den Genitiv nach Präpositionen am Beispiel von ›wegen‹: Wegen des Sturmes oder wegen dem Sturm? Wegen mir oder meinetwegen?
Dauer: 45 Minuten.
Welcher Fall steht nach der Präposition wegen
?
Die heutige Präposition wegen war einst eine Ausgeburt der Bürokratensprache. Sie entstand als Nominalphrase im Hoch- und Spätmittelalter in norddeutschen Kanzleien, stammt also aus dem niederdeutschen Sprachraum und wurde erst später als Präposition ins Hochdeutsche übernommen.
Ursprünge der Präposition wegen
Wegen
geht auf das Substantiv Weg
zurück. Es hatte im Niederdeutschen jedoch eine andere Bedeutung als im Hochdeutschen: Es bedeutete Seite, Stelle, Ort
. Diese Bedeutung findet sich auch in dem niederdeutschen Wort allerwegen
an allen Stellen
, das es als always
ins Englische geschafft hat. Auch in Nordeuropa findet sich dieses niederdeutsche Wort: Isländisch annars vegar
bedeutet auf der anderen Seite, andererseits
.
So entstand die Wendung von … wegen
in der Bedeutung von der Seite von … aus
. Um wessen Seite es geht, wurde durch ein Genitivattribut ausgedrückt, das sich auf Wegen
bezieht. Ganz analog gibt es die Wendung von mir aus
, also von meiner Seite aus.
Diese Urform ist heute noch in den Wendungen von Amts wegen
und von Rechts wegen
erhalten.
Lange Zeit blieb diese Wendung im Hochdeutschen unbekannt, also in der Sprache, die man bis zur frühen Neuzeit nur im Süden Deutschlands, in Österreich und in der Schweiz sprach.
Der Ausdruck von x wegen
ist den Sprechern des Hochdeutschen ganz und gar unverständlich, da sie die niederdeutsche Bedeutung von Weg
nicht kennen. Auch im Niederdeutschen wurde es nicht in guter Sprache verwendet (viele niederdeutsche Dichter schrieben ohnehin auf Hochdeutsch).
Entwicklung zur heutigen Präposition
Die ursprüngliche Wendung von x wegen
bedeutete also von der Seite von x aus gesehen
und ähnelt dem heutigen seitens
. Zur heutigen Bedeutung von wegen
kommt es über das Lateinische, das im Mittelalter in deutschen Kanzleien noch eifrig geschrieben wurde. Von x wegen
wurde mit propter
übersetzt.
Propter ist eine adverbiale Ableitung zum Adverb prope
, das nahe bei
bedeutet. So bedeutet propter
soviel wie nählich
oder beilich
. Das entspricht genau der niederdeutschen Wendung. Zudem hat das lateinische propter
aber noch eine übertragene Bedeutung, die der der heutigen Präposition wegen
entspricht: propter morbum
bedeutet wegen der Krankheit
.
Propter entsteht aus dem Adverb prope
und der Adverbendung ∙iter
: propiter
. Das i
schwindet später. Propter
steht als Präposition im Lateinischen mit dem Akkusativ.
So enthält wegen durch das Hin- und Zurückübersetzen die bildsprachliche Bedeutung von propter
:
- Kausal Wegen des Sturms/dem Sturm bleibe ich im Haus. → Weil es stürmt, bleibe ich im Haus.
- Final Wegen des Abiturs/dem Abitur lerne ich wie der Teufel. → Ich lerne wie der Teufel, um das Abitur zu bestehen.
Präpositionen mit Genitiv?
Präpositionen sind Verhältniswörter. Das Verhältnis, das sie ausdrücken, ist immer ein räumliches Verhältnis. Deshalb regieren Präpositionen grundsätzlich nur räumliche Fälle: Der Dativ antwortet auf die wo?
(im Park), weil er den aufgegebenen Lokativ in sich aufgenommen hat (dativus locativus). Der Akkusativ antwortet auf die Frage wohin?
(ins Haus).
Präpositionen regieren im Deutschen und im IndogermanischenVideo-Tutorial: Indogermanisch und nicht indoeuropäisch generell nicht den Genitiv. Man findet ihn nur bei Adverbien, die wie Präpositionen gebraucht werden:
- mangels Geldes
- bezüglich dieser Tatsache
- seitens des Klägers
- hinsichtlich ihrer Entscheidung
wegen
mit Genitiv oder Dativ?
Ursprünglich ist wegen
also ein normales Substantiv im Dativ Plural, von dem ein Genitivattribut abhängt.
Erst als die Wendung die Grenze zum Hochdeutschen im Süden überschreitet und das Hochdeutsche zudem das Deutsch aller Deutschen wird, wandelt sich das Substantiv in eine Präposition, denn den Hochdeutschen ist die Bedeutung von niederdeutsch Weg
unbekannt. Es handelt sich um einen verdunkelten Ausdruck wie das Him
in Himbeere
.
Im Hochdeutschen stehen Präpositionen aber grundsätzlich mit dem Dativ, wenn sie auf die Frage wo?
antworten, oder im Akkusativ, wenn sie auf die Frage wohin?
antworten. Mit dem Genitiv stehen Präpositionen grundsätzlich nicht. Der Genitiv kann sich nur im norddeutschen Raum halten, wo die Menschen die niederdeutsche Bedeutung des Wortes Weg
noch kennen. Später hält er sich aber vor allem durch gedankenlose Sprachratgeber, die Vorschriften propagieren, die sie gar nicht verstanden haben.
Dativ und Akkusativ sind räumliche Fälle, der Genitiv ist dagegen ein Kasus, der einen abstrakten, grammatikalischen Bezug beschreibt. Er hat also nach Präpositionen nichts zu suchen. Das ehemals nachgestellte Substantiv Wegen
wird nun wie die anderen Präpositionen vorangestellt und steht korrekterweise mit dem Dativ.
Auch die Verwendung mit dem Genitiv ist heute noch möglich. Es handelt sich aber um niederdeutsche Mundart und auf keinen Fall um besonders gutes Hochdeutsch
. Es ist zudem ein grammatikalisch nicht mehr korrekter Archaismus, denn selbst die Menschen in Norddeutschland benutzen wegen
heutzutage als reine Präposition.
Grammatikalisch korrekt und stilistisch viel besser ist der Dativ: wegen dem Sturm
. Besser ist es deshalb, weil es räumlicher und sinnlicher ist und dem Kasussystem des Deutschen entspricht.
meinetwegen
oder wegen mir
?
Will man die Präposition wegen
mit einem Pronomen verwenden, kann man zwischen zwei Konstruktionen wählen: meinetwegen
oder wegen mir
. Genau dies verwendet Bastian Sick für seinen erfundenen Lebensraum-Endkampf des Dativs gegen den Genitiv:
Bastian Sick Originaltext bei Spiegel Online
Wegen dir, sang die bayerische Sängerin Nicki 1986. Das Lied war damals ein großer Erfolg und erlangte Bekanntheit weit über die Grenzen Bayerns hinaus. Ein deutscher Schlager, der nicht auf Hochdeutsch getextet war. Die Bayern, das weiß man, haben’s net so mit dem Wes-Fall (Woos is des?), sie lieben den Dativ wie das Weißbier und die Blasmusik. Daher verzieh man der Sängerin auch gerne den dritten Kasus im Zusammenhang mit dem Wörtchenwegen.
Offenkundig hat Bastian Sick den Unterschied zwischen Hochdeutsch und Standarddeutsch nicht verstanden. Er verwechselt die beiden Begriffe. Das Bairische ist seit jeher einer der Hauptdialekte des Hochdeutschen. Die Wendung wegen dir kann nach allem, was bisher gesagt wurde, auf keinen Fall falsch sein. Sie mutet dennoch aus der Sicht eines Norddeutschen dialektal an. Das liegt daran, daß sich bereits eine andere Fügung gebildet hat, noch bevor wegen
zu einer hochdeutschen Präposition wurde: meinetwegen, deinetwegen, seinetwegen usw.
Als müsse er diesem kommerziellen Tiefschlag des Genitivs etwas entgegenhalten, brachte im selben Jahr der Österreicher Udo Jürgens eine Platte mit ähnlich klingendem Titel heraus:
Bastian Sick Originaltext bei Spiegel OnlineDeinetwegenhieß das Album, und es wurde ein großer Erfolg weit über die Grenzen Österreichs hinaus. Zum Glück: So wurden die Radiohörer im deutschsprachigen Raum daran erinnert, dass man in Bayernwegen dirsagen kann, dass die richtige Form aberdeinetwegenlautet. Denn was Udo Jürgens singt, ist immer bestes Hochdeutsch. Ein Jahr lang ging er mitDeinetwegenauf Tournee, ein beispielloser Kreuzzug für die Rettung des Genitivs. Anmerkung:Als müsseist falsch. Korrekt istals müßte. In irrealen Vergleichssätzen kann nur der Konjunktiv II stehen.Tutorial: Wie verwendet man den Konjunktiv?
In Österreich spricht man Bairisch. Sowohl Nicki als auch Udo Jürgens kommen also aus dem bairischen Sprachraum, sprechen also Hochdeutsch. Hier wird Hochdeutsch also wieder mit Standarddeutsch verwechselt. Bastian Sick stellt Nickis angeblich falschem wegen dir
Udo Jürgens’ deinetwegen
gegenüber. Ohne jeden Zweifel hält Bastian Sick deinetwegen
für eine Genitivform. Es sei darauf hingewiesen, daß dieses Beispiel das einzige ist, mit dem Bastian Sick seine These, der Dativ sei wäre dem Genitiv sein Tod, veranschaulicht.
Zunächst unterscheiden sich wegen mir
und meinetwegen
dadurch, daß dieses das Possessivpronomen (das besitzanzeigende Fürwort: mein, dein, sein
usw.) verwendet, jenes aber das Personalpronomen (das persönliche Fürwort: ich, du, er, sie, es
usw), wie es nach Präpositionen üblich ist. Das Personalpronomen ist deklinierbar: Der Dativ von ich
lautet mir
.
Auch das Possessivpronomen ist deklinierbar:
Deklination maskuliner Substantive mit Possessivpronomen | |
---|---|
Plural Maskulinum | |
Nominativ | meine Wege |
Akkusativ | meine Wege |
Dativ | meinen Wegen |
Genitiv | meiner Wege |
Die Wendung meinetwegen stammt aus der Zeit, als man im Niederdeutschen noch von ___ Wegen
sagte. Sagt man von Amts wegen
(= von der Seite des Amtes aus), so sagt man auch von meinen Wegen
(= von meiner Seite aus).
Die Wendung lautete anfangs von meinentwegen
, wobei die Präposition von
später abfiel. Luther sagt noch meinentwegen
. Darin steckt also überhaupt keine Genitivform, wie Bastian irrtümlich annimmt, sondern die Dativform meinen
. Das t
ist ein epenthetischer Verschlußlaut, den man im Deutschen gerne einfügt, um die Aussprache eines Wortes zu erleichtern: eigen-t-lich, jeman-d, eben-d, Ax-t, Obs-t, vermein-t-lich
.
Im Plural verwendet man zu wir
, ihr
und sie
regulär die Possessivformen unser
, euer
und ihr
: unsretwegen, euretwegen, ihretwegen
. Daneben verwendet man die substantivisch gebrauchte Pluralform des Relativums der
. Da ein Relativpronomen aber keinen Besitz ausdrücken kann, muß hier statt der Dativform denen
die Genitivform deren
gewählt werden: derentwegen
oder deretwegen
. derentwegen
darf nur relativ, also rückbezüglich verwendet werden, ihretwegen
dagegen in allen anderen Stellungen:
- Die Männer, derentwegen wir hier sind.
- Ihretwegen sind wir hier.
Tatsächlich gründet Bastian Sicks Ad-hoc-Theorie, die wir in ihrer Gänze für fundamental falsch und beeindruckend unkundig halten, auf einer Genitivform, die gar keine ist. Da Wegen
zunächst von der Präposition von
abhängt, steht es im Dativ. Das Possessivpronomen meinen
kongruiert ganz normal damit und steht deshalb auch im Dativ. Meinetwegen
ist also kein Genitiv, sondern ein Dativ.
Bastian Sicks Vorzeigebeispiel für einen schönen alten Genitiv ist also ein waschechter Dativ.