Konjunktiv: Optativ und Potentialis
konjunktiv
Dieses Tutorial schließt das Thema Konjunktiv ab, indem gängige Mißverständnisse über den Konjunktiv ausgeräumt werden. Es geht um Funktionen, die dem Konjunktiv irrtümlich zugeschrieben werden: 1. Der deutsche Konjunktiv kann weder Wünsche (Optativ oder Voluntativ) noch Aufforderungen (Adhortativ, Exhortativ) ausdrücken. 2. Der Konjunktiv drückt keine Möglichkeit aus (Potentialis). Deshalb ist auch der deutsche Begriff der Möglichkeitsform unzutreffend.
Dauer: 43 Minuten.
Der Konjunktiv als Möglichkeitsform oder Wunschform?
Der deutschen Konjunktiv wird oft auch Möglichkeitsform
genannt.
Vielen Grammatiken nach soll er nicht nur Möglichkeit (Potentialis) zumAusdruck bringen, sondern sogar Wünsche (Optativ, Voluntativ), Aufforderungen (Adhortativ) oder Befehle (Iussiv).
Das ist jedoch ein Mißverständnis: Keine dieser Funktionen kann im Deutschen mit dem Konjunktiv ausgedrückt werden.
Die beiden Konjunktivformen sei
und wäre
haben im heutigen Deutsch nur jeweils eine einzige produktive Funktion:
- Der Konjunktiv 1
ich sei, ich sei gewesen
drückt innerliche Abhängigkeit aus und wird meist für die indirekte Rede und das Zitieren verwendet. - Der Konjunktiv 2
ich wäre, ich wäre gewesen
drückt Unwirklichkeit (Irrealität) aus.
Der Konjunktiv
als Möglichkeitsform
In vielen Grammatikbüchern wird der Konjunktiv als Möglichkeitsform beschrieben. Wir wählen als Beispiel, das sich durch seine Kürze auszeichnet, die großen Deutschgrammatik von Pons:
Mit dem Konjunktiv verschieben wir Vorgänge und Handlungen in den Bereich des Möglichen, der Wünsche, der Nichtwirklichkeit, des Hörensagens und der indirekten Rede. Er wird deshalb auch Möglichkeitsform genannt.
Wie der Konjunktiv aus einer Tatsache eine Möglichkeit macht, wird gleich darauf durch dieses Beispiel gezeigt:
Es könnte sein, dass er Recht hat. (Aber ich weiß es nicht. Es ist nur eine Möglichkeit.)
ebd.
Tatsächlich drückt dieser Satz eine Möglichkeit aus. Um zu überprüfen, ob dies durch den Konjunktiv verursacht wird, nehmen wir den Konjunktiv einmal heraus:
Zu unserem Erstaunen hat sich der Gehalt des Satzes überhaupt nicht verändert. Die Möglichkeit wird anscheinend allein durch das Verb können
herbeigeführt. Wir überprüfen dies, indem wir das Verb streichen und stattdessen wieder den Konjunktiv einsetzen:
Das Resultat ist ein ungültiger deutscher Satz. Das läßt nur eine Folgerung zu: Der Konjunktiv ist keine Möglichkeitsform. Er kann aus einer Tatsache keine Möglichkeit machen. Das heißt auch, daß der Konjunktiv im Beispielsatz aus einem ganz anderen Grund stehen muß.
Danach folgt diese Behauptung:
Der Konjunktiv 1 wird vor allem für die indirekte Rede verwendet, der Konjunktiv 2 wird generell zur Darstellung der Unwirklichkeit, Unmöglichkeit benutzt.
ebd.
Unser Beispiel enthielt einen Konjunktiv 2 könnte
. Wenn der aber generell Unwirkliches und Unmögliches darstellen soll, wie kann er dann im Beispiel eine Möglichkeit ausdrücken, wo unmöglich
und möglich
unvereinbare Gegensätze sind?
Es gibt noch ein zweites Beispiel. Das steht im Konjunktiv 1, ohne daß wir erfahren, warum beim ersten Beispiel die Möglichkeit durch den Konjunktiv 2 ausgedrückt wurde und diesmal der Konjunktiv 1:
Man sagt, er habe sich von ihr getrennt. (Aber wir wissen es nicht genau.)
ebd.
Auch hier läßt sich die ganze Idee mit unserem einfachen Test widerlegen:
Tatsächlich drückt der Konjunktiv 1 niemals aus, daß man etwas nicht genau weiß. Er kennzeichnet den Satz bloß als den Inhalt einer Aussage (innerliche oder inhaltliche Abhängigkeit). Ob diese Aussage wahr, möglich oder unwahr ist, darüber sagt der Konjunktiv 1 nichts.
Doch wie drückt man im Deutschen eine Möglichkeit (grammatikalisch Potentialis
genannt) aus? Allein durch lexikalische Wendungen, also durch Modalverben oder Adverbien. Zum Beispiel:
- Er kommt vielleicht.
- Er kommt wohl.
- Er kommt bestimmt.
- Er kommt möglicherweise.
- Er kommt anscheinend.
- Er scheint zu kommen.
- Es scheint, daß er kommt.
- Es sieht so aus, daß er kommt.
- Er sollte (eigentlich) kommen.
- Er wird wohl kommen.
- Er kann noch kommen.
Auch der Konjunktiv 2 wie beim allerersten Beispiel kann keine Möglichkeit ausdrücken, obwohl dies dauernd behauptet wird. Zum Beispiel bei Wikipedia. Dort beginnt der Eintrag über den Konjunktiv so:
Der Konjunktiv wird für die Darstellung einer Möglichkeit benutzt und daher auch als Möglichkeitsform bezeichnet.
Interessanterweise folgt dieser Einführung dann aber im ganzen Artikel nichts, was entfernt mit Möglichkeit
zu tun hätte. Zum Glück, denn der Artikel hebt sich positiv von anderen Publikationen ab und bringt, was der Konjunktiv tatsächlich tut. Allenfalls dieser winzige Abschnitt ist zweifelhaft formuliert:
Zögern, Zweifel bei einer Frage, Vermutung oder Feststellung:
Wäre so etwas denkbar?
Sie könnte schon in den Urlaub gefahren sein.
Der Konjunktiv 2 drückt hier keine Zweifel oder eine Vermutung aus. Das tun die Beispielsätze nämlich auch ohne den Konjunktiv:
Einige germanistische Abhandlungen behaupten sogar, der Konjunktiv 2 könnte sowohl den Irrealis (Unwirklichkeit und Unmöglichkeit), als auch den Potentialis (Möglichkeit) ausdrücken. Diese beiden Aussagemodi sind jedoch unvereinbare Gegensätze. Stellen Sie sich vor, sie kommen mit dem Auto an ein Stopschild … und das Stopschild könnte einmal bedeuten, Sie sollen anhalten, und ein andermal, sie sollen weiterfahren, ohne daß das Zeichen Ihnen verrät, was es diesmal bedeutet.
Wie Verkehrszeichen sind auch sprachliche Zeichen eindeutig und niemals widersprüchlich. Der Konjunktiv 2 bedeutet als sprachliches Zeichen immer nur Unwirklichkeit. Im Alltag oder alltagsähnlicher Sprache benutzt man ihn gern, um etwas Wirkliches oder Wahrscheinliches als unwahrscheinlich oder unmöglich auszudrücken. Dieser deutliche Widerspruch zeigt dem Hörer, daß man seine Einschätzung spontan treffen muß und nichts gewiß ist. Beim Konjunktiv der Höflichkeit drückt man eine Bitte als Unmöglichkeit aus, um sein Gegenüber nicht vor vollendete Tatsachen zu stellen.
Nach dem gleichen Prinzip wird in einigen Sprachen eine Bitte negativ formuliert, obwohl sich der Sprecher ja das Gegenteil wünscht:
Oder: Der Portier stellt dem Hotelgast den Koffer in den Kofferraum. Obwohl er zur Hälfte herausragt und sich die Klappe nicht schließen läßt, sagt der Portier nicht: Der Koffer ist viel zu groß, den kriegen Sie niemals da rein
. Er sagt vielmehr: Der Koffer ist fast ein bißchen zu groß
, obwohl der Koffer doppelt so groß wie der Kofferraum ist.
Der Konjunktiv als Wunschform: Optativ, Voluntativ, Kupitiv
An anderer Stelle soll der Konjunktiv Wünsche, Aufforderungen oder Befehle ausdrücken können, ohne daß dem Leser erklärt wird, wie man beim Hören oder Lesen dieser Sätze erkennen soll, mit welcher der angeblich so vielen Funktionen des Konjunktiv er es zu tun hat.
In der Grammatik sind hier die Begriffe Optativ
, Voluntativ
oder Kupitiv
in Gebrauch. Optativ
bezieht sich dabei eher auf die grammatikalische Form, die beiden anderen auf spezielle Bedeutungen eines Modus.
Mit dem Konjunktiv Präsens können Wünsche oder Ausrufe formuliert werden. Er kommt auch in einigen festen Redewendungen vor:
Sei gegrüßt! Sie lebe hoch!(Ausruf)Er ruhe in Frieden.(Wunsch)Komme, was da wolle. Es sei denn, dass …(Redewendung)a.a.O., Seite 298
Beginnen wir mit dem ersten Beispiel:
Konjugieren wir einmal den Konjunktiv 1 von sein
:
Konjunktiv 1 von sein |
|
---|---|
ich | sei |
du | seiest |
er | sei |
wir | seien |
ihr | seiet |
sie | seien |
Der Konjunktiv 1 der zweiten Person lautet also immer du seiest
, und das seit jeher und ohne Ausnahme. Sei!
ist der Imperativ. Dieses Beispiel ist also falsch. Zum zweiten Beispiel:
Mit Ausrufen hat der Konjunktiv gar nichts zu tun. Er soll hier einen Wunsch ausdrücken. Und tatsächlich: Nimmt man den Konjunktiv fort, verschindet auch der Wunsch:
Dasselbe gilt für das dritte Beispiel:
Gemeinsam haben diese beiden Beispiele, daß sie in der dritten Person Singular stehen. Das ist kein Zufall, denn hier lassen sich Indikativ und Konjunktiv durch die Endung bei allen Verben unterscheiden: er geh∙t
versus daß er geh∙e
.
In allen anderen Personen ist dieser Konjunktiv allerdings ganz und gar unmöglich, und auch in der dritten Person Singular ist er nicht mehr produktiv. Produktiv bedeutet, daß man den Konjunktiv nicht mehr benutzen kann, um einen Wunsch an die dritte Person auszudrücken. Hält sich ein Ausländer beim Deutschlernen an das, was die Grammatik von Pons und anderen ihnen empfehlen, bringt er also lauter ungültige Sätze hervor.
Dies ist nicht erst seit gestern so, sondern bei der dritten Person Singular seit etwas über einem halben Jahrtausend, bei den anderen Personen sogar doppelt so lang. Seit einem Jahrtausend kann der Konjunktiv Präsens ich sei
im Hauptsatz keine Wünsche oder Möglichkeit mehr ausdrücken, ja, er kann überhaupt nicht mehr im Hauptsatz verwendet werden, wenn er nicht innerlich abhängig auf einen Ausdruck des Sagens oder Denkens im vorangegangenen Satz folgt und dadurch bereits vorher angekündigt wird:
Ein Jahrtausend, das sind zehn Jahrhunderte. Ist es nicht erstaunlich, daß der Konjunktiv in Grammatiken immer noch als Modus der Möglichkeit und des Wunsches bezeichnet wird? Ein schönes Beispiel dafür, daß man nicht irgendwo abschreiben soll, was man nicht versteht.
Nun zu den verbleibenden Beispielen:
Beide Sätze sollen Beispiele für den Konjunktiv des Wunsches sein, tatsächlich äußern sie eine Möglichkeit und hätten deshalb ins andere Kapitel zum Potentialis gehört. Man wünscht sich ja nicht, daß etwas kommt, sondern zeigt sich gewappnet gegen alles, was da eventuell kommt.
Ebenso beim zweiten Satz: Es sei denn
erörtert auf alte Weise, daß es vielleicht auch anders sein könnte. Wünschen tut man sich das nicht.
Auch diese Sätze sind Hauptsätze. Dort kann sich der alte Konjunktiv nur in der dritten Person in Redewendungen halten. Denn:
- Er lebe hoch! Aus lateinisch
Vivat!
- Er ruhe in Frieden! Aus lateinisch
Requiescat in pace!
- Komme, was da wolle! Wie französisch
Advienne que pourra!
All diese Beispiele sind Relikte aus einer fernen Vergangenheit und erstarrte Wendungen.
Auch im Französischen und im Englischen sind alte Optativformen als Relikt erhalten:
Vive la France!
God save the Queen!
Wer heute als Abteilungsleiter sagt:
Der wird für eine schlechte Kopie von Ludwig dem Zweiten gehalten. Man sagt selbst nicht mehr:
Sondern:
- Frau Müller, gehen Sie bitte …
- Bitte schicken Sie Fräu Müller …
- Frau Müller soll bitte …
Eventuell nimmt man auch wieder den Konjunktiv 2 der Alltagssprache: Dieser Konjunktiv darf nicht als Wunschform mißdeutet werden. Der Konjunktiv 2 konnte zu keiner Zeit Wünsche äußern. Wo er sonst in Wünschen auftritt, macht er den Wunsch nur unerfüllbar, aber er erzeugt den Wunsch nicht.
- Frau Müller möchte bitte …
Nur im Rezeptdeutsch kommt der Konjunktiv des Wunsches und der Aufforderung noch als feste Wendung und deutliches Erkennungszeichen für eine Handlungsanweisung vor:
Das ist aber nur noch in Kochrezepten einigermaßen üblich; Ärzte und Apotheker verständigen sich auf lateinisch und verwenden den Imperativ an die zweite Person: Recipe. (Rp.)
. Heutzutage wird der Leser eines Kochbuchs eher direkt in der zweiten Person angesprochen. Hier ist der Konjunktiv seit jeher ganz und gar unmöglich. Deswegen heißt es im Imperativ:
Tatsächlich ist dieser heutige Imperativ der Sie-Form der alte Konjunktiv 1 der dritten Person Plural. Er kommt heute oft vor. Das ist aber nur möglich, weil er durch das nachgestellte Sie
deutlich vom Indikativ zu unterscheiden ist.
Ursprung und Geschichte des Konjunktivs
Warum konnte der Konjunktiv früher Möglichkeit, Wunsch und Aufforderung ausdrücken. Warum kann er es heute nicht mehr?
Der Konjunktiv in vordeutscher Zeit
Der deutsche Konjunktiv ist sprachgeschichtlich nicht mit dem lateinischen Konjunktiv verwandt, dafür aber mit dem Optativ im Altgriechische. Sie entstammen einem urindogermanischen Verbalmodus, der durch das Suffix ∙ih₁
(unbetont) oder ∙iéh₁
(betont) gebildet wurde und einen astreinen Potentialis beschreibt. Aus er geht
wird durch Anhängen dieses Suffixes er geht wohl
oder er geht möglicherweise
(Potentialis). Der Sprecher A hält es also für möglich, daß B geht. Hiervon ist es nur ein Katzensprung zu ich erwarte, daß er geht
im fordernden Sinne, und ein weiterer zu er soll gehen!
(Optativ).
Das i
in diesem Suffix ist es, was später im Althochdeutschen beim Konjunktiv Präteriti der starken Verben den Umlaut verursachen wird: ich hatte → als ob ich hätte
.
Im Konjunktiv Präsens vermischt sich das i
mit dem vorausgehenden Themavokal a
zu ∙ai
, woraus e
wird, das keinen Umlaut verursacht. Deshalb: daß ich habe
.
So erklärt sich, warum der deutsche Konjunktiv noch im Althochdeutschen sowohl Möglichkeit als auch Wunsch ausdrücken konnte. Ebenso im GriechischenTutorial: Einführung in die griechische Schrift: Hier bezeichnet der Optativ (Präsens) mit der Partikel ἄν
án
den Potentialis in Haupsätzen:
Wünsche kann der Optativ (Aorist oder seltener Präsens oder Perfekt) auch ausdrücken. Oft, aber nicht immer steht eine Partikel wie εἴθε
eithe
.
Der lateinische Konjunktiv hat dagegen einen anderen Ursprung. Er ist mit dem griechischen Konjunktiv verwandt und geht auf das urindogermanische Suffix ∙ē
— siehe lateinisch amat
(Indikativ) → amet
(Konjunktiv) — oder ∙ō
— siehe lateinisch vivit
(Indikativ) → vivat
(Konjunktiv) — zurück.
Dieses Suffix drückt nicht die Möglichkeit aus, sondern eine Erwartung an die Zukunft: Er wird gehen.
Der Sprecher A erwartet also, daß B gehen wird. Aus diesem Grund kennt das Lateinische keinen Konjunktiv des Futurs, denn der würde dasselbe doppelt ausdrücken. Dieses Suffix ist in seiner Bedeutung sehr nahe dem anderen. Auch hier wird aus ich erwarte, daß er geht
leicht das Erwägen einer Möglichkeit oder die Forderung er soll gehen!
(Optativ).
Das Deutsche und das Lateinische haben deshalb die beiden Modi zu einem vereint (mit jeweils anderem Suffix), das Griechische hat dagegen beide Suffixe als eigenständige Modi erhalten. Der griechische Konjunktiv hat tatsächlich viel Zukünftiges in sich, der Optativ nicht.
Der Konjunktiv im frühen Deutsch
Im Althochdeutschen drückt der Konjunktiv im Hauptsatz wie der verwandte griechische Optativ sowohl Möglichkeit als auch Wunsch oder Aufforderung aus. Jedoch nur in der ersten und dritten Person. In der zweiten Person wird wie heute stets der Imperativ verwendet. Nur im Prohibitiv, also im Imperativ des Verbots, greift man zum Konjunktiv:
-
Ni slehēs!
Du sollst nicht töten! -
Ni huorōs!
Du sollst nicht ehebrechen!
Wörtlich also: Nicht ehebrechest du!
Das Althochdeutsche kann dies machen, weil zu seiner Zeit der Indikativ noch leicht vom Konjunktiv Präsens zu unterscheiden ist. Nehmen wir das Verbum suochen
suchen
:
In diesen Zeiten, die mit dem Mittelalter oder spätestens der frühen Neuzeit endeten, drückte der Konjunktiv tatsächlich Wünsche aus. Darin lag sogar seine ursprüngliche Funktion, und die innerliche Abhängigkeit, heute die einzige Funktion, war damals nur ein Spezialfall im Nebensatz, die in der Neuzeit an Bedeutung gewann. Zugleich ging die Funktion des Wünschens im Hauptsatz ein, weil die Endungen von Indikativ und Konjunktiv verblassten und schließlich gleich klangen: Wo der Indikativ einst ich suochu
und der Konjunktiv ich suoche
lautete, heißt es heute in beiden Formen ich suche.
Der Konjunktiv im heutigen Deutsch
Von diesem Moment an ist der Konjunktiv Präsens (= Konjunktiv 1) im Hauptsatz tot. Damit endet auch sogleich die Möglichkeit, Möglichkeit oder Wunsch durch den Konjunktiv Präsens auszudrücken. Denn stößt man als Leser oder Hörer auf so einen Hauptsatz, wird man die Verbform grundsätzlich als Indikativ deuten.
Um Wunsch oder Möglichkeit auszudrücken, greift man nun zu Wendungen mit Modalverben. Die kennt das Deutsche seit frühester Zeit. Ursprünglich verwendete man müssen
. Seitdem das seine heutige Bedeutung angenommen hat, verwendet man mögen
:
In der zweiten Person verwendet man nach wie vor den Imperativ Komm!
oder andere Wendungen Du sollst kommen! Komm schon! Komm jetzt! Bitte komm! …
Der im Althochdeutschen durchaus noch gebräuchliche Konjunktiv des Wunsches für die erste Person stirbt sofort. In der dritten Singular kann er sich halten, weil der Konjunktiv 1 dort gut zu erkennen ist. Die festen Redewendungen wie es sei denn
oder es komme, was wolle
, die das Deutsche heute noch kennt, stammen alle aus dieser Phase, wo man den Konjunktiv der dritten Person noch eine Weile im Hauptsatz gebraucht hat.
Konjunktiv wird Imperativ
Der Konjunktiv der dritten Person Singular ist jedoch isoliert. Weil man den Konjunktiv im Hauptsatz sonst nicht mehr kennt, gerät diese Form im frühen Neuhochdeutschen ins Imperativparadigma, die bislang keine Form für die dritte Person kannte:
Neuhochdeutscher Imperativ | |
---|---|
Imperativ | |
(ich) | — |
(du) | nimm! |
man | nehme! |
(wir) | nehmen wir! |
(ihr) | nehmt! |
(sie) | nehmen Sie! |
Interessanterweise hat der Imperativ der Du-Form Video-Tutorial: Der Imperativ seitdem die Endung ∙e
für alle Verben generalisiert, wenn der Imperativ keinen Umlaut hat (sterben
→ stirb!
), denn auch die neue Form der dritten Person hat sie. Davor waren die Endungen des Imperativs noch anders geregelt.
Dieser Konjunktiv im Hauptsatz darf also heute nicht mehr als Konjunktivform angesehen werden, weil er das im Sprachzentrum der Neuhochdeutschsprecher nicht mehr sein kann.