Falsche Großschreibung bei Pronomen
rechtschreibung
Immer häufiger stößt man in Texten auf großgeschriebene Pronomen wie ›der Andere‹ oder ›Manche‹. Anscheinend halten die Verfasser dieser Texte solche Formen für Substantivierungen. Es wird Zeit, die Großschreibung im Deutschen abzuschaffen.
Dauer: 50 Minuten.
Rechtschreibung des Pronomens
Pronomina werden in der alten und in der neuen Rechtschreibung kleingeschrieben. Die Schwierigkeit besteht besonders bei Indefinitpronomina wie einige, der andere, manche
darin zu erkennen, was ein Pronomen ist.
Sie werden in jüngster Zeit oft mit substantivierte Adjektiven verwechselt. Hier vier Beispiele:
Sogar Stefan Raab, bei dem man zumindest fest an eine versteckte Ebene hinter dem ewigen Moderatorengrinsen glaubt, macht seine Witze auf Kosten Anderer eher selten ins Gesicht des Gegenübers - sondern führt die Menschen normalerweise lieber aus der Konserve vor.
Jenny Zylka, Spiegel Online, 11.6.2011
Die Verfasser dieser Beispiele halten die markierten Pronomina offenkundig für substantivierte Adjektive. Wir nehmen an, daß sie wenig lesen, wodurch ihnen das in Millionen von deutschen Schriftdokumenten typische Schriftbild der Kleinschreibung solcher Wörter nicht geläufig ist. Aus dieser Not heraus fangen sie an, selbst zu überlegen, ob sie das Wort groß- oder kleinschreiben sollen. Da ihnen aus der wohl nicht lange zurückliegenden Schulzeit das Prinzip der Substantivierung im Kopf herumschwirrt und die beiden letzten Beispiele mit dem bestimmten Artikel stehen, entscheiden sie sich für die Großschreibung.
Rechtschreibregeln
Beginnen wir mit der Rechtschreibvorschrift. Sie könnte nicht einfacher sein und lautet in neuer und alter Rechtschreibung gleich: Pronomina schreibt man klein.
Dies bereitet bei den meisten Arten des Pronomens auch keine Schwierigkeiten, zum Beispiel:
- Personalpronomen:
ich, du, er, sie, es, wir, ihr, sie.
- Demonstrativpronomen:
der, die, das; dieser, jener …
- Relativpronomen:
der
- Interrogativpronomen:
welcher …
Betroffen ist nur die Gruppe der unbestimmten Pronomen (Indefinitpronomen):
- einer, keiner
- jemand, niemand, etwas
- wenige
- einige
- mancher, manche
- viele
- jeder, alle
Sowie Bildungen, die auch zu den Indefinita gehören, traditionell (veraltet) aber hier und da eingeordnet werden:
- derselbeTutorial: Derselbe und der gleiche: Rechtschreibung und Verwendung
- der gleicheTutorial: Derselbe und der gleiche: Rechtschreibung und Verwendung
- ein anderer, der andere, andere, die anderen
Wenn Sie mit der Vorschrift zufrieden sind, können Sie hier aufhören zu lesen und sich nur die obigen Schreibungen einprägen. Von hier an geht dieser Artikel der Frage nach, warum diese Wörter Pronomina sind und warum man Pronomina kleinschreibt.
Werfen wir einen Blick in die amtliche Rechtschreibung:
In folgenden Fällen schreibt man Adjektive, Partizipien und Pronomen klein, obwohl sie formale Merkmale der Substantivierung aufweisen: […] (4) Pronomen, auch wenn sie als Stellvertreter von Substantiven gebraucht werden, zum Beispiel:
- In diesem Wald hat sich schon mancher verirrt.
- Ich habe mich mit diesen und jenen unterhalten.
- Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen.
- Das muss (ein) jeder mit sich selbst ausmachen.
- Wir haben alles mitgebracht.
- Sie hatten beides mitgebracht.
- Man muss mit (den) beiden reden.
Amtliche Rechtschreibung, Paragraph 58
… obwohl sie formale Merkmale der Substantivierung aufweisen.
— Damit ist zum Beispiel der bestimmte Artikel gemeint. Wo das amtliche Rechtschreibregelwerk von formal
spricht, meint es, daß etwas so aus—sieht als ob. So wie ein Mann formale Merkmale einer Frau aufweist, weil er Brustwarzen besitzt. Dennoch ist er keine Frau. Ihm fehlen dazu alle tatsächlichen Merkmale, die primären Geschlechtsorgane nämlich und was sonst noch alles nur an Frauen auftritt.
Und weiter heißt es: Pronomen, auch wenn sie als Stellvertreter von Substantiven gebraucht werden …
Pronomen sind niemals Stellvertreter von Substantiven, auch wenn man beim Redigieren eines Textes manchmal überlegt, ob man ein Substantiv besser durch ein Pronomen ersetzen sollte (oder umgekehrt). Das sind kompositorische Überlegungen, die nichts mit dem zu tun haben, was im Sprachzentrum unseres Gehirn geschieht.
Es gibt nur einen einzigen Satz — und zwar den, der tatsächlich gesagt oder geschrieben wurde. Wenn darin ein Pronomen auftritt, dann bezieht es sich direkt auf das, worüber gesprochen wurde. Es ist sprachlich-
Stellen Sie sich vor, ein Mann hat sich mit seiner Freundin in der Stadt verabredet. Als er am Treffpunkt ankommt, wartet die Frau bereits, aber nicht allein, sondern in Begleitung eines anderen Mannes, den unser Mann nie zuvor gesehen hat. Wie es ihm die Natur eingegeben hat, sieht unser Mann sogleich rot und fragt: Wer ist er denn?
In diesem Beispiel ist jede Möglichkeit ausgeschlossen, daß das Pronomen er
irgendein anderes Wort ersetzt. Es referiert direkt auf den anderen Mann.
Pronomina sind Substantiven in einem Satzschema also ganz und gar gleichberechtigt und ersetzen einander nicht. Diese Erkenntnis ist wichtig, weil nur sie erklärt, warum wir Pronomina kleinschreiben. Stünden Pronomina an Substantivs Statt, müßten wir sie allesamt großschreiben: Er, Es, Dies …
Substantive und substantivierte Wörter schreibt man also groß, Pronomina klein. Doch wann ist etwas ein Pronomen und kein Substantiv? Die Antwort ist ganz leicht: Wenn etwas keine Substanz hat, ist es kein Substantiv. Oder wie in der Grundschule: Wenn etwas kein Name ist, ist es kein Namenwort.
Bevor wir uns dies genauer ansehen, schließen wir die Rechtschreibvorschriften ab. Offenbar ist auch der andere
ein Pronomen, denn die amtliche Rechtschreibung schreibt Kleinschreibung vor.
[Klein schreibt man:]
(5) die folgenden Zahladjektive mit allen ihren Flexionsformen: viel, wenig; (der, die, das) eine, (der, die, das) andere
- Das haben schon viele erlebt.
- Zum Erfolg trugen auch die vielen bei, die ohne Entgelt mitgearbeitet haben.
- Nach dem Brand war nur noch weniges zu gebrauchen.
- Sie hat das wenige, was noch da war, in eine Kiste versorgt.
- Die meisten haben diesen Film schon einmal gesehen.
- Die einen kommen, die anderen gehen.
- Was der eine nicht tut, soll der andere nicht lassen.
- Die anderen kommen später.
- Das können auch andere bestätigen.
- Alles andere erzähle ich dir später.
- Sie hatte noch anderes zu tun.
- Unter anderem wurde auch über finanzielle Angelegenheiten gesprochen.
Amtliche Rechtschreibung, Paragraf 58
Überrascht, was heutzutage noch Alles alles kleingeschrieben wird?
Pronomen versus substantiviertes Adjektiv
Um den Unterschied zwischen einem Pronomen und einem substantivierten Adjektiv zu erkennen, sehen wir uns folgendes Schema an:
Das Koordinatensystem ist die ganze Welt. Alles hat seinen Platz in diesem Universum, das hier der Einfachheit halber zweidimensional ist. Jedes konkrete und abstrakte Ding hat also zwei Koordinaten. Sie sind alle am Ursprung dieses einen Koordinatensystems ausgerichtet (gepunktete Linien), seien es konkrete Dinge wie die Farbe Grün oder die Partei die Grünen
.
Auch Gedanken und Sätze haben einen Ort im Universum. Das Schema enthält zwei Sätze, die an verschiedenen Orten geäußert werden und nur gemein haben, daß in beiden der Ausdruck die Grünen
vorkommt. Obwohl die Sätze von verschiedenen Personen geäußert und gehört werden, bezieht sich die Grünen
darin auf eine bestimmte Stelle im Koordinatensystem. Diese Stelle ist absolut.
Anders ist es in folgendem Schema:
Beide Sätze sind wieder am globalen Koordinatensystem ausgerichtet. Doch der gemeinsame Ausdruck, die anderen,
bezieht sich nicht auf ein und denselben Punkt im System, weil in den Sätzen mit der andere
jeweils ein anderer gemeint ist. Die Wendung ist jeweils an einem weiteren, lokalen System ausgerichtet: dem Satz. Der Bezug ist relativ.
Substantive, Adjektive und Verben haben einen absoluten Bezug, weil sie eine Bedeutung haben. Sie sind lexikalisch. Das Pronomen hat dagegen einen relativen Bezug. Seine Bedeutung entsteht erst durch den Satz, in dem es verwendet wird, so daß man gar nicht von einer Bedeutung, sondern von einer Funktion sprechen muß. Pronomina haben keine Bedeutung, sie üben eine Funktion aus.
Als Attribut oder substantiviert beschreibt das Adjektiv eine Eigenschaft, die immer länger andauert als die im Prädikat eines Satzes geschilderte Handlung.
- Das kleine Kind spielte mit dem Ball.
Klein
ist eine Eigenschaft, die dem Kind anhaftet, vor, während und nachdem es mit dem Ball spielt.
- Das andere Kind spielte mit dem Ball.
In diesem Satz ist ander
keine Eigenschaft. Das Kind ist nur innerhalb der Aussage das andere, in anderen Aussagen nicht.
Substantivierte Pronomina
Substantiviert ist ein Pronomen nur, wenn es zum Namen gemacht wird:
- Jemand hat für dich angerufen, aber dieser Jemand hat seinen Namen nicht genannt.