Die Kunst des Nicht-aus-dem-Häuschen-Geratens
rechtschreibung
Welche Regeln gelten für die Großschreibung und die Kleinschreibung in Wortzusammensetzungen, die mit Bindestrichen durchgekoppelt sind, für deren Einzelteile und die Gesamtkonstruktion?
Dauer: 19 Minuten.
Wortzusammensetzungen mit oder ohne Bindestrich?
Bei der Rechtschreibung von Wortzusammensetzungen sind im Deutschen zwei Entscheidungen zu treffen:
- Wird mit Bindestrichen durchgekoppelt oder nicht?
- Wird groß oder klein geschrieben?
Zusammensetzungen ohne Bindestrich
Die Wortbildung des Deutschen ist inkorporierend. Das bedeutet, daß die Elemente einer Wortzusammensetzung ihren Status als Wort und Wortart verlieren, was erheblichen Einfluß auf die Groß- und Kleinschreibung hat.
Die meisten Zusammensetzungen sind Determinativkomposita: Hierbei wird ein Wort durch Vorsilben spezifiziert oder in seinem Bezug eingeengt:
- Verbum:
fahren
→hinfahren
- Adjektiv:
grün
→dunkelgrün
- Substantiv:
Haus
→Reihenhaus
Wichtig ist dabei die Erkenntnis, daß alle nichtletzten Glieder ihren Status als eigenständiges Wort und ihre Wortart verlieren — sie werden zu einer Vorsilbe.
Das Substantiv Atom
ist also kein Substantiv mehr, wenn es zum spezifizierenden Vorderglied des Determinativkompositums atomfreundlich
wird. Falsch muß deshalb auch die Schreibung Atomfreundlich
sein. Denn zu welcher Wortart ein Kompositum gehört, wird stets vom letzten Glied bestimmt. Da freundlich
ein Adjektiv ist, muß auch atomfreundlich
ein Adjektiv sein, selbst wenn die Vorsilbe atom-
als eigenständiges Wort ein Substantiv wäre.
Man schreibt Determinativkomposita klein, wenn das letzte Glied und damit das Gesamtkompositum kein Substantiv ist. Das betrifft:
- Verben und auch Infinitive:
teilnehmen
und nichtTeilnehmen
(Paragraph 34 der amtlichen Rechtschreibung) - Adjektive einschließlich der Partizipien:
teilgenommen
und nichtTeilgenommen
(Paragraph 35 der amtlichen Rechtschreibung) - Adverbien:
beziehungsweise
und nichtBeziehungsweise
(Paragraph 35 der amtlichen Rechtschreibung)
Bei Determinativkomposita ist auch die Bindestrichschreibung falsch, weil sie der Wortbildung des Deutschen widerspricht: Beziehungs-
.
Zusammensetzungen mit Bindestrich
Zusammensetzungen mit Bindestrich sind im Deutschen eine seltene Ausnahme. Der BindestrichVideo-Tutorial: Bindestrich und Gedankenstrich dient allein dem Ziel anzuzeigen, daß die Inkorporation aus unüberwindlichem Grund nicht stattgefunden hat oder nicht ordentlich geschrieben werden kann.
Ein solcher Fall ist die Schreibung c-Moll
. Normalerweise werden Substantive nach §55 der amtlichen Rechtschreibung sowie in allen früheren Schreibsystemen großgeschrieben. In der Musik ist es jedoch Konvention, Moll-
Dasselbe gilt für pH-Wert
. In der Chemie werden chemische Elemente mit Großbuchstaben gesiegelt, wie in diesem Falle der Wasserstoff (der Wasserstoffkern H⁺) mit H
. Obwohl es sich beim Kompositum um ein Substantiv handelt, darf p
nicht großgeschrieben werden, weil P
das Element Phosphor bezeichnet, hier aber von pondus
oder potentia
die Rede ist. Das pH
muß also auf jeden Fall mit einem Minuskel mit folgendem Majuskel geschrieben werden. Die Inkorporation mit ihren orthografischen Folgen Phwert
muß hier also unterbleiben. Dieses Unterbleiben wird durch den Bindestrich markiert. Er verbindet die unterbliebene Komposition: pH-Wert
.
Das Durchkoppeln mit Bindestrich ist also überall da vonnöten, wo aus sachlichen Gründen nicht so geschrieben werden kann, wie es die Orthografie vorschreibt:
- UV-empfindlich
- Formel-1-tauglich
- dpa-Meldung
- VIP-Lounge
- i-Punkt
Da nur der Minuskel i
einen Punkt enthält, wäre die Schreibung Ipunkt
unikonisch.
Binderstrichschreibung ist auch überall dort angebracht, wo es logische Bezüge klarzustellen gilt. Solche Fälle weisen mindestens zwei Bindestriche auf:
- S-Kurven-reich
- Formel-1-tauglich
- 400-Meter-Lauf
Ist eine Straße bloß reich an Kurven, kann ein normales (exozentrisches) Kompositum gebildet werden: kurvenreich
. Das Substantiv Kurve
verliert hier seinen Status als großzuschreibendes Substantiv und wird zu einer Vorsilbe für das Adjektiv reich
. Anders liegt der Fall, wenn zuerst die Kurve spezifiziert wird. Keine Haarnadelkurve ist gemeint, sondern eine Kurve in Form eines S. Der Bindestrich verhindert, daß S
wie der Laut /s/ gelesen wird: S-Kurve
statt Skurve
.
Dieses Kompositum wird nun wieder zum Determinans eines Adjektivs reich
. Hierbei kommt nur ein zweiter Bindestrich in Frage: S-Kurven-
. Die Schreibung S-kurvenreich
würde bedeuten, daß sich S
auf kurvenreich
bezöge, was keinen Sinn ergäbe. Der zweite Bindestrich klärt die Bezüge.
In Bindestrichschreibungen werden die einzelnen Elemente also so geschrieben, wie sie auch als eigenständige Wörter geschrieben werden.
Wo der Bindestrich nichts zu suchen hat
Bei Bindestrichschreibungen kann es also vorkommen, daß Substantive klein- und Adjektive großgeschrieben werden: i-Punkt, a-Laut, c-Moll
und S-Kurven-reich, UV-empfindlich
.
Deshalb sollten solche Bildungen vermieden werden. Leider hat sich das Bilden unästhetischer Wortungetümer zu einem typischen Merkmal schlechten Stils entwickelt. So sprechen drittklassige Journalisten von der Apple-
, wo das schlichte Apples Homepage
ideal wäre. Ohnehin steht das Adjektiv eigen
in gutem Deutsch mit einem freien Dativ: wem eigen?
→ mir eigen
→ Apple eigen
. Die Bindestrichschreibung ist hier also zudem ein lexikalischer und syntaktischer Irrtum, der durch falsche Analogie zu hauseigen
entsteht. Schließlich verwendet man eigen
nur, wenn jemand etwas zugesprochen wird oder man sich etwas zu eigen macht, aber eben nicht, wenn es ihm per Gesetz gehört. Eigen sind heute vor allem Eigenschaften, Dinge sind dagegen Besitz.
Im Rahmen der putzigen Hyperkorrektheit, die Journalisten an den Tag legen, seit sie mit dem Recherchieren ganz aufgehört haben, heißt es neuerdings US-amerikanisch
, wo mit amerikanisch
nichts als die USA gemeint sein kann. Auch bei der Infantilisierung des Deutschen, die das Witzblatt Spiegel Online vorantreibt, leistet der Bindestrich gute Dienste:
Der Bindestrich ist hier falsch. Die Wortbildung des Deutschen ist durchaus in der Lage, solche Bildungen zu verkraften: Dagegenrepublik
. Es handelt sich technisch um ein ganz normales Determinativkompositum, wenn auch um ein beschämend dämliches, bei dem das Adverb dagegen
zu einer Vorsilbe von Republik
wird.
Die Lesbarkeit läßt sich nicht mit dem Bindestrich steigern
Noch falscher ist dies:
Bei der Pannenrepublik
handelt es sich wie bei Idiotenredaktion
oder Weltuntergangspostille
um normale Komposita, bei denen die Inkorporation regulär stattgefunden hat. Noch dazu enthalten sie ein Fugenelement, obwohl zu vermuten ist, daß der Redakteur das n
in Pannen
mit einer Pluralendung verwechselt hat.
Komposita mit dem Fugenelement ∙s∙
oder ∙n∙
dürfen nie mit Bindestrich geschrieben werden. Es handelt sich um einen verbreiteten Irrtum, die Lesbarkeit langer Zusammensetzungen könnte mit dem Bindestrich gesteigert werden. Das gilt ebenso für Fälle, wo das vordere Element auf einen Vokal endet, der mit dem Anfangsvokal des folgenden Elements als Diphthong verkannt werden kann: Beinhalten
ist be∙
und inhalten
und nicht bein
und halten
. Ebenso reinvestieren
. Das Tee-Ei
schreibt man hingegen nicht mit Bindestrich, um die Lesbarkeit zu erleichtern, sondern weil ein Vokal (hier e
) im Deutschen nicht dreimal hintereinander vorkommen darf.
Falsche Kompositionstechniken mit Anführungs- und Leerzeichen
Ohne jeden Spielraum falsch sind windige Techniken des Wortkomponierens, die zum Leerzeichen oder zum Anführungszeichen greifen. Nichts davon hat im Inneren des Wortes etwas zu suchen.
- Fahnenappell in der zu Guttenberg-Kaserne
- "Erste Hilfe"-Kasten
Solche Konstruktionen stehen im ewigen und unlösbarem Widerspruch zu den Axiomen der Rechtschreibung, nach denen innerhalb eines Wortes kein Leerzeichen auftreten darf, weil das Leerzeichen das Ende eines Wortes und den Beginn eines anderen markiert.
Das Anführungszeichen ist ein Satzzeichen und kann ebenfalls nicht im Inneren eines Wortes auftreten, weil es nicht möglich ist, nur einen Teil eines Wortes anzuführen und den Rest nicht. Ein Wort kann nicht mit einem Teil auf der Ebene des Dinge und mit dem Rest auf der Ebene der Zeichen stehen.
Ebensowenig kann nur ein Teil eines Kompositums mit Gänsefüßchen ironisiert werden, zumal man mit Anführunsgszeichen ohnehin nicht ironisieren kann, weil das Wesen der Ironie die Verstellung ist, das Wesen von Anführungszeichen die Kenntlichmachung. Dazu gibt es ein eigenes TutorialTutorial: Anführungszeichen.
Ebensofalsch ist die Annahme, der Raum zwischen dem öffnenden und dem schließenden Anführungszeichen wäre ein grammatikfreier Raum, in dem Deklination und Orthografie außer Kraft gesetzt wären.
Man kann Erste Hilfe
nicht mit Anführungszeichen zusammenschnüren und als Paket vor einen Kasten spannen. Nur die Durchkopplung ist richtig: Erste-Hilfe-Kasten
.
Bei diesem Beispiel hielt der Verfasser die Anführungszeichen wohl für nötig, weil Gorch Fock ein Name ist:
Namen stehen jedoch nicht in Anführungszeichen, auch wenn man sie gerne ausspricht:
Nur wenn man den Namen wirklich für ein Ding halten könnte, werden Anführungszeichen gesetzt:
- Objektebene:
Er hatte die Zeit vergessen.
- Zeichenebene:
Er hatte »die Zeit« vergessen.
Im ersten Fall ist die Zeit ein Ding, das die deutsche Sprache Zeit nennt. Im zweiten Fall ist die Zeit ein Name für ein Ding, das die deutsche Sprache Zeitung nennt. Nur wenn die Ebene der Zeichen mit der Ebene der Dinge mit Sicherheit verwechselt werden, stehen Gänsefüßchen. Wenn einer die Süddeutsche oder Frankfurter Allgemeine vergißt, also nicht. Ausführlich wurde dies im Tutorial über den Gebrauch der GänsefüßchenVideo-Tutorial und Artikel: Wann und wie gebraucht man Anführunsgzeichen? beschrieben.
Für die Wortbildung gilt als Konsequenz, daß ein Zeitkolumnist
nur ein Kolumnist sein kann, der Kolumnen über den Zeitgeist schreibt, nie jedoch einer, der Kolumnen für die Zeitung dieses Namens schreibt. Hier sind Fügungen wie Kolumnist bei der Zeit
auch aus stilistischen Gründen vorzuziehen.
Rechtschreibung von nominalisierten Sätzen und Phrasen
Ein besonderes Anwendungsgebiet der Bindestrichschreibung ist die Nominalisierung ganzer Phrasen und Sätze. Dazu greift man meist, wenn man seine Aussage salopp klingen lassen will. Aus einem Satz oder einer Phase mit einer finiten Verbform wird dann ein Substantiv:
- Er lebte in den Tag hinein. → Das In-den-Tag-hinein-Leben war sein Lebensstil. (nicht: In-den-Tag-Hineinleben)
- Die Kunst besteht darin, nicht aus der Haut zu fahren. → die Kunst des Nicht-aus-der-Haut-Fahrens.
Sätze und Phrasen mit finitem Verb sind eigentlich nur Erweiterungen des finiten Verb. Dieses wird also eigentlich nominalisiert. Das Substantiv von Verben ist der Infinitiv. Obwohl alle Infinitive Substantive sind, schreibt man sie klein, wenn sie Teil des Prädikats sind.
- Ich werde jetzt gehen.
- Du mußt noch bleiben.
- Was soll ich tun?
In anderen Satzgliedern schreibt man Infinitive groß:
Daß in diesem Beispiel das Schwimmen als Objekt zum Wollen gedeutet werden kann, ändert nichts daran, daß beides zusammen das Prädikat bildet. Das gilt auch für die Mundart: Das Herta war am Spülen dran.
- Objekt:
Ich hasse Schwimmen.
- Subjekt:
Er wußte, daß Irren menschlich ist.
- Attribut:
Die Kunst des Liebens.
- Adverbiale:
Er starb beim Radfahren.
Auch prädikativ:Ich bin beim Schwimmen. Das Herta war am Spülen dran.
Diese Regeln gelten auch, wenn ein ganzer Satz nominalisiert wird:
- Sie gerieten nicht aus dem Häuschen. → Die Kunst des Nicht-aus-dem-Häuschen-Geratens.
Alle anderen Teile solcher Monsterkomposita werden so geschrieben, als wären sie eigenständige Wörter. Der erste Buchstabe muß jedoch auf jeden Fall großgeschrieben werden, weil das Kompositum in seiner Gesamtheit ein Substantiv ist. Dies wird in §55 der amtlichen Rechtschreibung geregelt, gilt aber genauso in klassischer Rechtschreibung:
Substantive schreibt man groß. Die Großschreibung gilt auch:
(1) für nichtsubstantivische Wörter, wenn sie am Anfang einer Zusammensetzung mit Bindestrich stehen, die als Ganzes die Eigenschaften eines Substantivs hat, zum Beispiel:
das In-den-Tag-hinein-Leben; (2) für Substantive — auch Initialwörter und Einzelbuchstaben, sofern sie nicht als Kleinbuchstaben zitiert sind — als Teile von Zusammensetzungen mit Bindestrich, zum Beispiel:
zum Aus-der-Haut-Fahren.Amtliche Rechtschreibung, §55, gekürzt
Falsch sind also diese beiden Schreibungen sowie die Mischung daraus:
- das in-den-Tag-hinein-Leben
- das In-den-Tag-hinein-leben
Infinitive sind morphologisch Substantive, das heißt von ihrem Wesen her Substantive. Die amtliche Rechtschreibung bezeichnet Infinite als Substantivierungen. Das ist aber falsch. Es wird rasch klar, wenn man nach unsubstantivierten Infinitiven sucht. Partizipien sind dagegen Adjektive. In Nominalisierungen werden sie dennoch nicht großgeschrieben, obwohl sie der Kern einer Substantivierung sind:
- Dieses ständige Das-habe-ich-ja-gesagt!
Dieses Monstrum läßt sich nicht reduzieren auf das Gesagt
. Das Problem liegt darin, daß Adjektive als Prädikatsnomina stark-endungslos sind, nach dem bestimmten Artikel oder einem Demonstrativpronomen allerdings zwingend schwach gebeugt werden müßten: das Gesagt-e
. Das ergäbe hier jedoch keinen Sinn.
Schließlich wäre dann noch die Frage zu beantworten, ob man das Glied -habe-
nicht ebenfalls großschreiben müßte. Eine finite Verbform kann jedoch nicht nominalisiert sein. So kann sich die Nominalisierung in diesem Fall nur auf das Kompositum als Gesamtgebilde beziehen: das [Das-habe-ich-ja-gesagt].
Vorne muß dennoch großgeschrieben werden.