Rheuma, Rhythmus, Diarrhöe

Warum schreibt man bei griechischen Fremdwörtern am Wortanfang ›rh∙‹?

Warum schreibt man Rheuma mit mit H? Oder allgemeiner ge­fragt: Warum schreibt man hin­ter R stets ein H, wenn es am Beginn eines grie­chischen Fremd­wor­tes steht? Rhi­no­ze­ros, Rhom­bus, Rhe­to­rik, Rhap­so­die, Rha­bar­ber, Perry Rho­dan.

Die schnelle Antwort lautet: Weil man im Alt­grie­chi­schen (klas­si­sches At­tisch und Io­nisch) den Laut /r/ am Wort­anfang be­haucht sprach. Und wo im Grie­chi­schen ge­haucht wurde, schrei­ben wir sys­­tema­­tisch ein <h>.

Diese Antwort führt allerdings zu einer weiteren Fra­ge: Wa­rum wur­de r denn am Wort­anfang be­haucht? Zudem ist die Kurz­antwort nicht ganz ko­scher. Des­halb gebe ich noch eine bessere Erklä­rung.

Hauchlaut im Griechischen

Fangen wir mit der griechischen Schrift an. Der Hauch wird in der grie­chi­schen Schrift durch ein dia­kriti­sches Zei­chen aus­drück­lich be­zeich­net, dem Spiri­tus asper (wört­lich: rau­her Hauch). Er sieht aus wie ein nach recht ge­öffne­ter Krin­gel und wird bei Klein­buch­sta­ben über den Buch­sta­ben ge­stellt, in diesem Fall das Rhō, dem griechischen Buchstaben für R.

Der griechische Buchstabe Rhō trägt einen Spiritus asper am Wortanfang Spiritus asper Rhō
Das Rhō als Kleinbuchstabe. Darüber steht der Spiritus asper nur am Wortanfang. Er bezeichnet einen Hauch­laut wie im Deutschen das h.

Der Spiritus asper kann nur auf dem ersten Buch­staben ei­nes Wor­tes stehen, weil der Laut /h/ im Grie­chi­schen nicht wie bei deutsch we­hen im Wort­inne­ren vor­kom­men kann. Üb­licher­weise steht er über einem Vokal­zei­chen am Wort­anfang:

Ein Alpha mit Spiritus asper (rauher Hauch). Der Hauch wird stets vor dem Vokal gesprochen:

  • ἅλς háls Salz
  • ἕλιξ hélix Windung
  • ὥρα hōra Stunde

Wird vor dem Vokal kein Hauch gesprochen, steht ein Spi­ri­tus lenis (weicher Hauch). Er sieht aus wie der Spi­ri­tus asper, ist aber gespiegelt (nach links ge­öf­fnet). Er wird nicht ge­spro­chen:

  • ἄλλος állos anderer
  • ἔρος érōs Liebe
  • ἴσος ísos gleich

Der Spiritus asper entspricht also unserem h wie in heben versus eben, und tatsächlich handelt es sich paläografisch auch darum.

Der griechische Buchstabe Rhō trägt einen Spiritus asper am Wortanfang Landkarte des Mittelmerrraums /—/ /h/ lat. /h/ kyrill. /i/ phönizisches hebräisches Heth /h/ ägyptisch /hwt/
Das Lateinische H geht auf das Heth in semitischen Schrif­ten wie der phö­nizi­schen oder he­bräi­schen zurück. Das gilt ursprünglich auch für das Grie­chi­sche. Hier kommt es je­doch zu einer Wei­ter­ent­wick­lung. Der grie­chi­sche Spi­ri­tus geht auf ein hal­bier­tes H zu­rück.

Das lateinische H

Unser H wird auf eine ägyptische Hiero­glyphe (Gar­di­ner-Zei­chen O6) zurückgeführt. Nach der Funk­tions­weise der Hiero­gly­phen­schriftVideo-Tutorial: Wie sind die ägyptischen Hieroglyphen entstanden? stellt das Zei­chen ein Ge­höft (Grund­stücks­mauer mit Wohn­haus) da. Das Wort für Gehöft dafür war ḥ(w)t, des­halb steht das Zei­chen für den Laut­wert /ḥ(w)t/.

Die Hieroglyphe wird in den semitischen Schriften wie der phönizi­schen oder hebrä­ischen als Laut­zei­chen für den stimm­losen Pha­ryn­gal [ħ]Externer Link zum Eintrag über Heth bei Wikipedia. über­nom­men, zudem wird der volle Laut­wert der Hiero­glyphe ḥ(w)t zum Namen des Buch­sta­bens: ḥet.

Aus den semitischen Schriften entsteht die griechische Schrift, wie sie heute noch be­nutzt wird. Weil die se­miti­schen Schrif­ten aber nur Kon­sonan­ten schrei­ben und davon mehr haben als das Grie­chi­sche, wurden einige Kon­sonan­ten­zei­chen zu Vokal­zei­chen um­funk­tio­niert. Das Epsi­lon (E /ĕ/, kur­zes e) stammt zum Bei­spiel vom he­bräi­schen He (ה)Externer Link zu Wikipedia: He her, das Ēta (H /ē/, lan­ges e) vom Heth (ח).

In den Schriften des antiken Italiens, der etruski­schen oder der la­teini­schen Schrift, ähnelt das H noch sehr dem phö­nizi­schen Heth und be­zeich­net dort auch ei­nen Hauch­laut.

Im Ionisch-Attischen (Ionisch wurde in Kleinasien gespro­chen, heu­tige Tür­kei), einem von mehreren Dia­lekten des Grie­chi­schen in der Antike, gingen alle h-Laute im Wort­inne­ren ver­loren. Daher wurde H um­funk­tio­niert und be­zeich­net ein lan­ges /ǟ/ (genauer: [ǣ]). Aus Heth (ח) wird Ēta (Η η). Nach Chri­sti Ge­burt wird Eta nicht mehr /ä/, sondern /i/ aus­gespro­chen (Ita­zis­mus). Des­halb be­zeich­net И и in der von der grie­chi­schen ab­gelei­teten ky­rilli­schen Schrift den Laut /i/.

Putin in kyrillischer Schrift:

Путин

Hauchlaute kommen im Ionischen (sprich: ii-onisch; nicht: jonisch) am Wort­beginn nur vor Vokalen oder So­no­ran­ten l, m, n, r vor. Um diesen Hauch zu be­zeich­nen, haben ale­xandri­nische Gram­mati­ker im 3. Jahr­hun­dert vor Chris­tus das gro­ße H (das klei­ne gab es noch gar nicht) in der Mitte ge­spal­ten (siehe Kar­te oben). Die bei­den Hälf­ten wurden anfangs voran­ge­stellt und dann spä­ter als dia­kriti­sche Zei­chen über den Klein­buch­staben ge­stellt. Aus der lin­ken Hälf­te ent­wickel­te sich der Spi­ri­tus asper, aus der rech­ten der stumme Spi­ri­tus lenis. Diese Zei­chen wur­den erst ent­wickelt, nach­dem sich das Io­nisch-At­ti­sche als maß­geb­licher Dia­lekt des Grie­chi­schen weit über seine an­gestamm­te Hei­mat hin­aus aus­gedehnt hatte. Er war also nur ein Hilfs­zei­chen, das bei Bedarf gesetzt wurde, kon­sequent erst seit by­zanti­nischer Zeit.

Die beiden Spiritus gibt es nur in der griechischen Schrift, nicht aber bei ihren vielen Deri­vaten wie der kop­ti­schen, latei­nischen oder ky­rilli­schen Schrift. Das liegt an der be­son­de­ren Laut­entwick­lung in diesem Dia­lekt.

Bei den Sonoranten blieb der Hauch nur vor dem r bewahrt. Das an­lau­ten­de grie­chische Rhō wurde dann in la­teini­scher Um­schrift als rh wie­der­geben. Kor­rekt hätte man aber hr schrei­ben müs­sen, denn der Hauch geht dem /r/ voraus. Das kann ein Irr­tum der Römer sein, die sich die Laut­folge /hr/ nicht vor­stel­len konn­ten. Es kann aber auch sein, daß gar nicht /hr/ ge­spro­chen wurde, son­dern ein stimm­loses /r/. Genau das gibt es im Is­län­dischen: hreinn rein wird nicht /hräjtn/ ge­spro­chen, son­dern /[ṛäjtn/ (kor­rekt müßte man ein Krin­gel statt einem Punkt unter das r setz­ten, aber das hat man bei Uni­code ver­ges­sen).

Im isländischen Beispiel können wir genau sagen, wo das h her­kommt: ur­indo­ger­manisch *krei∙ wird durch die ger­mani­sche Laut­verschie­bung k → h zu ger­ma­nisch hrei∙no∙. Im Deut­schen fällt das h ab rein, im Is­län­di­schen bleibt es er­hal­ten und ver­schmilzt mit dem fol­genden r.

So auch im Griechischen. Der Hauch vor je­dem Rhō am Wort­beginn ist ein Über­bleib­sel eines Lautes. Das wissen wir, weil im Ur­indo­ger­mani­schen Wör­ter gar nicht mit r∙ be­gin­nen konn­ten. Ihm muß ur­sprüng­lich ein anderer Laut vor­aus­ge­gan­gen sein. Das konnte nur ein Kon­so­nant sein, entweder ein Ver­schluß­laut (uridg. dhregh → deutsch tra­gen, eng­lisch draw, la­tei­nisch tra­here, grie­chisch tréchein) oder ein Laryngal.Externer Link zu Wiki­pedia: La­ryn­gal­theorie in der indo­germani­schen Sprach­wissen­schaft.

Laryngale waren Hauch­laute, die es im Ur­indo­ger­mani­schen gab, die aber in allen spä­te­ren Ein­zel­spra­chen ver­schwun­den sind: uridg. h3rinh∙ → dt. rinnen und alt­indisch rinati. Nur im Grie­chi­schen sind sie an dieser Stelle nicht ver­schwun­den, sondern zu Voka­len ge­wor­den: orino. Vergleiche auch dt. Leute und griechisch eleútheros frei, freier Mensch.

Alle griechischen Wörter, die mit einem r beginnen, kommen von einer dritten Möglichkeit: Dem r ging im Ur­indo­ger­mani­schen ein s oder w voran. Neh­men wir Rheuma. Das ist eine No­minal­ablei­tung des Ve­bums rhé­ein flie­ßen wie in Panta rhéei. Im Alt­indi­schen heißt das ety­molo­gisch ver­wandte Verb srávati. Dar­aus re­kon­struie­ren wir die ur­indo­ger­mani­sche Wur­zel srew mit der Be­deu­tung flie­ßen, strö­men.

Entwicklung von r im Anlaut vom Urindogermanischen zum Griechischen Uridg. #Cr #Hr #wr #sr dʰr|egʰ- h₃r|nh- wr|- sr|ew- Ionisch #Cr #Vr #hr #hr tr|écho or|íno rh|ódon rh|eein ῥ|όδον ῥ|έειν Vgl. dt. tr|agen engl. dr|aw lat. tr|aho dt. r|innen lesb. br|ódon ai. sr|ávati
Legende: # Wortanfang — C Konsonant — V Vokal — H Laryngal (ur­indo­germani­scherVideo-Tutorial: Indogermanisch und nicht indoeuropäisch Hauchlaut)

Nicht nur in Rheuma steckt das Verbum rhéein fließen, son­dern auch in Diar­rhoe, wört­lich Durch­fluß, wir sagen auf deutsch Durch­fall. Hier haben wir aber zwei Rhos, wes­halb das Wort gerne falsch ge­schrie­ben wird. Wo­her kommt das zwei­te Rhō? Von einem grie­chi­schen Laut­gesetz: Wenn man vor ein mit Rhō be­gin­nen­des Wort eine Vor­sil­be wie dia∙ durch setzt, die auf ei­nen Vo­kal endet (hier a), dann ver­schiebt sich die Sil­ben­gren­ze und das Rhō wird ver­dop­pelt: ur­grie­chisch a∙wrektos → klas­sisch-grie­chisch ar∙rek­tos. Das klang für die Grie­chen bes­ser, uns bringt es beim Recht­schrei­ben in Be­dräng­nis, aber in keine so große Be­dräng­nis, wie es eine trie­fen­de und jucken­de Go­nor­rhoe täte. Die ge­hört auch noch hier­her.

In alter und neuer Recht­schrei­bung kann man Diar­rhöe oder Diar­rhö schrei­ben. Eigent­lich heißt es Diar­rhoia, vom a kommt das e am Wort­ende. Die ein­zig kor­rekte Tren­nung ist sil­bisch und ety­molo­gisch Diar∙rhö(e).

Für uridg. wr∙ gibt es auch noch ein schönes Beispiel, und zwar io­nisch-at­tisch rhó­don. Die Lesben auf Les­bos spra­chen da­ge­gen nicht io­nisch, son­dern les­bisch. Und auf les­bisch heißt das Wort bró­don. Hier wurde das w nicht zu einem Hauch ge­schwächt, son­dern zu einem Ver­schluß­laut. Das sind zwei ent­gegen­gesetz­te Stra­tegi­en, den Sil­ben­bau zu op­timie­ren. So sag­ten die Rö­mer quid /kwid/ wer?. Im Ger­mani­schen wurde aus kw∙ das un­gün­stige hw∙. Die Deut­schen op­ti­mier­ten das zu w∙: wer. Die Is­län­der ma­chen es da­gegen wie die Les­bier, sie schrei­ben zwar noch hver, spre­chen es aber /kwer/ aus.

Das hier Gezeigte gilt für alle Fremdwörter aus dem Grie­chi­schen, vom Rho­dium über das Rhino­zeros bis zum Rhyth­mus.