Rheuma, Rhythmus, Diarrhöe
Warum schreibt man bei griechischen Fremdwörtern am Wortanfang ›rh∙‹?
Warum schreibt man Rheuma mit mit H? Oder allgemeiner gefragt: Warum schreibt man hinter R stets ein H, wenn es am Beginn eines griechischen Fremdwortes steht? Rhinozeros, Rhombus, Rhetorik, Rhapsodie, Rhabarber, Perry Rhodan.
Die schnelle Antwort lautet: Weil man im Altgriechischen (klassisches Attisch und Ionisch) den Laut /r/ am Wortanfang behaucht sprach. Und wo im Griechischen gehaucht wurde, schreiben wir systematisch ein <h>.
Diese Antwort führt allerdings zu einer weiteren Frage: Warum wurde r
denn am Wortanfang behaucht? Zudem ist die Kurzantwort nicht ganz koscher. Deshalb gebe ich noch eine bessere Erklärung.
Hauchlaut im Griechischen
Fangen wir mit der griechischen Schrift an. Der Hauch wird in der griechischen Schrift durch ein diakritisches Zeichen ausdrücklich bezeichnet, dem Spiritus asper (wörtlich: rauher Hauch). Er sieht aus wie ein nach recht geöffneter Kringel und wird bei Kleinbuchstaben über den Buchstaben gestellt, in diesem Fall das Rhō, dem griechischen Buchstaben für R.
Der Spiritus asper kann nur auf dem ersten Buchstaben eines Wortes stehen, weil der Laut /h/ im Griechischen nicht wie bei deutsch wehen
im Wortinneren vorkommen kann. Üblicherweise steht er über einem Vokalzeichen am Wortanfang:
Der Spiritus asper entspricht also unserem h
wie in heben
versus eben
, und tatsächlich handelt es sich paläografisch auch darum.
Das lateinische H
Unser H wird auf eine ägyptische Hieroglyphe (Gardiner-Gehöft
dafür war ḥ(w)t
, deshalb steht das Zeichen für den Lautwert /ḥ(w)t/.
Die Hieroglyphe wird in den semitischen Schriften wie der phönizischen oder hebräischen als Lautzeichen für den stimmlosen Pharyngal [ħ]Externer Link zum Eintrag über Heth bei Wikipedia. übernommen, zudem wird der volle Lautwert der Hieroglyphe ḥ(w)t
zum Namen des Buchstabens: ḥet
.
Aus den semitischen Schriften entsteht die griechische Schrift, wie sie heute noch benutzt wird. Weil die semitischen Schriften aber nur Konsonanten schreiben und davon mehr haben als das Griechische, wurden einige Konsonantenzeichen zu Vokalzeichen umfunktioniert. Das Epsilon (E /ĕ/, kurzes e
) stammt zum Beispiel vom hebräischen He (ה)Externer Link zu Wikipedia: He her, das Ēta (H /ē/, langes e
) vom Heth (ח).
In den Schriften des antiken Italiens, der etruskischen oder der lateinischen Schrift, ähnelt das H noch sehr dem phönizischen Heth und bezeichnet dort auch einen Hauchlaut.
Im Ionisch-Attischen (Ionisch wurde in Kleinasien gesprochen, heutige Türkei), einem von mehreren Dialekten des Griechischen in der Antike, gingen alle h-Laute im Wortinneren verloren. Daher wurde H
umfunktioniert und bezeichnet ein langes /ǟ/ (genauer: [ǣ]). Aus Heth (ח) wird Ēta (Η η). Nach Christi Geburt wird Eta nicht mehr /ä/, sondern /i/ ausgesprochen (Itazismus). Deshalb bezeichnet И и in der von der griechischen abgeleiteten kyrillischen Schrift den Laut /i/.
Hauchlaute kommen im Ionischen (sprich: ii-onisch; nicht: jonisch) am Wortbeginn nur vor Vokalen oder Sonoranten l, m, n, r
vor. Um diesen Hauch zu bezeichnen, haben alexandrinische Grammatiker im 3. Jahrhundert vor Christus das große H (das kleine gab es noch gar nicht) in der Mitte gespalten (siehe Karte oben). Die beiden Hälften wurden anfangs vorangestellt und dann später als diakritische Zeichen über den Kleinbuchstaben gestellt. Aus der linken Hälfte entwickelte sich der Spiritus asper, aus der rechten der stumme Spiritus lenis. Diese Zeichen wurden erst entwickelt, nachdem sich das Ionisch-
Die beiden Spiritus gibt es nur in der griechischen Schrift, nicht aber bei ihren vielen Derivaten wie der koptischen, lateinischen oder kyrillischen Schrift. Das liegt an der besonderen Lautentwicklung in diesem Dialekt.
Bei den Sonoranten blieb der Hauch nur vor dem r
bewahrt. Das anlautende griechische Rhō wurde dann in lateinischer Umschrift als rh
wiedergeben. Korrekt hätte man aber hr
schreiben müssen, denn der Hauch geht dem /r/ voraus. Das kann ein Irrtum der Römer sein, die sich die Lautfolge /hr/ nicht vorstellen konnten. Es kann aber auch sein, daß gar nicht /hr/ gesprochen wurde, sondern ein stimmloses /r/. Genau das gibt es im Isländischen: hreinn
rein
wird nicht /hräjtn/ gesprochen, sondern /[ṛäjtn/ (korrekt müßte man ein Kringel statt einem Punkt unter das r
setzten, aber das hat man bei Unicode vergessen).
Im isländischen Beispiel können wir genau sagen, wo das h
herkommt: urindogermanisch *krei∙
wird durch die germanische Lautverschiebung k → h
zu germanisch hrei∙no∙
. Im Deutschen fällt das h
ab rein
, im Isländischen bleibt es erhalten und verschmilzt mit dem folgenden r
.
So auch im Griechischen. Der Hauch vor jedem Rhō am Wortbeginn ist ein Überbleibsel eines Lautes. Das wissen wir, weil im Urindogermanischen Wörter gar nicht mit r∙
beginnen konnten. Ihm muß ursprünglich ein anderer Laut vorausgegangen sein. Das konnte nur ein Konsonant sein, entweder ein Verschlußlaut (uridg. dhregh
→ deutsch tragen
, englisch draw
, lateinisch trahere
, griechisch tréchein
) oder ein Laryngal.Externer Link zu Wikipedia: Laryngaltheorie in der indogermanischen Sprachwissenschaft.
Laryngale waren Hauchlaute, die es im Urindogermanischen gab, die aber in allen späteren Einzelsprachen verschwunden sind: uridg. h3rinh∙
→ dt. rinnen
und altindisch rinati
. Nur im Griechischen sind sie an dieser Stelle nicht verschwunden, sondern zu Vokalen geworden: orino
. Vergleiche auch dt. Leute
und griechisch eleútheros
frei, freier Mensch
.
Alle griechischen Wörter, die mit einem r
beginnen, kommen von einer dritten Möglichkeit: Dem r
ging im Urindogermanischen ein s
oder w
voran. Nehmen wir Rheuma
. Das ist eine Nominalableitung des Vebums rhéein
fließen
wie in Panta rhéei
. Im Altindischen heißt das etymologisch verwandte Verb srávati
. Daraus rekonstruieren wir die urindogermanische Wurzel srew
mit der Bedeutung fließen, strömen
.
Nicht nur in Rheuma
steckt das Verbum rhéein
fließen
, sondern auch in Diarrhoe
, wörtlich Durchfluß
, wir sagen auf deutsch Durchfall
. Hier haben wir aber zwei Rhos, weshalb das Wort gerne falsch geschrieben wird. Woher kommt das zweite Rhō? Von einem griechischen Lautgesetz: Wenn man vor ein mit Rhō beginnendes Wort eine Vorsilbe wie dia∙
durch
setzt, die auf einen Vokal endet (hier a
), dann verschiebt sich die Silbengrenze und das Rhō wird verdoppelt: urgriechisch a∙wrektos
→ klassisch-ar∙
. Das klang für die Griechen besser, uns bringt es beim Rechtschreiben in Bedrängnis, aber in keine so große Bedrängnis, wie es eine triefende und juckende Gonorrhoe
täte. Die gehört auch noch hierher.
Für uridg. wr∙
gibt es auch noch ein schönes Beispiel, und zwar ionisch-rhódon
. Die Lesben auf Lesbos sprachen dagegen nicht ionisch, sondern lesbisch. Und auf lesbisch heißt das Wort bródon
. Hier wurde das w
nicht zu einem Hauch geschwächt, sondern zu einem Verschlußlaut. Das sind zwei entgegengesetzte Strategien, den Silbenbau zu optimieren. So sagten die Römer quid
/kwid/ wer?
. Im Germanischen wurde aus kw∙
das ungünstige hw∙
. Die Deutschen optimierten das zu w∙
: wer
. Die Isländer machen es dagegen wie die Lesbier, sie schreiben zwar noch hver
, sprechen es aber /kwer/ aus.
Das hier Gezeigte gilt für alle Fremdwörter aus dem Griechischen, vom Rhodium über das Rhinozeros bis zum Rhythmus.