Scharfes S oder scharfes ß?
Die Schreibung ›scharfes ß‹ ist zwar ein Pleonasmus, aber Pleonasmen sind nicht falsch, sondern manchmal sogar nötig.
Scharfes ß
Auf seiner Webseite schreibt Lektor Julian von Heyl:
- Beliebter Fehler: scharfes ß
- Richtige Schreibweise: scharfes S
Der Buchstabe ß (Eszett) wird auch
scharfes Sgenannt, bei der Bezeichnung „scharfes ß“ handelt es sich also um einen Pleonasmus (wie „weißer Schimmel“).
Das ist ein guter und richtiger TipTutorial: Tip oder Tipp?. Damit sind normale Leute im Alltag gut bedient. Für uns, die wir nichts Besseres zu tun haben, ist die Sache damit aber noch nicht gelaufen. Wie kann eine Sache gelaufen sein, wenn sie gerade erst begonnen hat!
Pleonasmus
Der Pleonasmus ist eigentlich eine rhetorische Figur (Satzfigur) und kann daher nie falsch sein, so wie auch eine Epipher, ein Zeugma, eine Enallage der Bus war voller Menschen
oder eine gestreifte Krawatte nie falsch sein können, sondern bestenfalls genial oder lächerlich, nötig oder unnötig. Sie haben richtig gelesen: Überflüssiges kann manchmal nötig sein.
Der Pleonasmus ist die konkrete Überfüllung des Ausdrucks im Einzelfall (aus griechisch πλεονάζειν pleonázein
überfüllen
; etymologisch verwandt mit dt. voll
und füllen
, aus urindogermanisch pleh₁∙
). Er ist also keine grundsätzliche Haltung wie der AsianismusExterner Link zu Wikipedia: Asianusmus oder der Superflu im Jugendstil, im Art Déco oder bei Yahoo.
Ein Pleonasmus aus unserem Alltag ist die Phrase Bundeskanzlerin Angela Merkel
in den Nachrichten. Daß Angela Merkel Bundeskanzlerin ist, weiß ohnehin jeder, darin liegt der Überfluß. Unnötig ist er dabei aber noch lange nicht. Sein Nutzen liegt in der räumliche Ausdehnung des Ausdrucks, er füllt die Zeit mit inhaltlicher Leere und verschafft dem Zuschauer damit einen Moment ohne neue Information. Dieses Füllen mit Füllstoff gibt dem Pleonasmus seinen Namen. Deshalb ist er nie ein Fehler, sondern eine Entscheidung.
Die Information Bundeskanzler
liegt lexikalisch nicht im Ausdruck Angela Merkel
— anders ist es beim weißen Schimmel
, wenn der Schimmel ein Pferd ist. Denn das Bild des Schimmels wird nur auf Pferde übertragen, die weiß sind. In diesem Fall spricht man von einer Tautologie. Sie ist ein Spezialfall des Pleonasmus, bei dem zweimal dasselbe gesagt wird (τὰ αὐτὰ λέγειν tà autà légein
dasselbe sagen
). Eine grüne Wiese
ist keine unbedingte Tautologie, weil eine Wiese auch gelbbraun oder bunt sein kann. Auch im Hochsommer kann man von einer grünen Wiese sprechen, wenn man die Sinnlichkeit über die Information stellt. Man sollte nur bedenken, daß Phrasen die Sinne nicht anregen, sondern trüben.
Feste Attribute wie Bundeskanzlerin Angela Merkel
oder Karl der Große
sind Epitheta (ἐπι-τιϑέναι epi-tithenai
(hier:) noch einen draufsetzen
), Attribute, die man sich sparen könnte, wenn es einem nur um Information ginge. Sie kommen auch im Roman vor, wenn eine Figur fünfzig Seiten lang auf der Toilette saß und dem Leser inzwischen entfallen ist. Dann heißt es eben: Gerichtsmediziner Müller kehrte zurück …
ß oder s?
Das scharfe S
ist kein Epitheton und kein Pleonasmus, so wie auch Angela
kein Epitheton zu Merkel
ist. Läßt man das Adjektiv weg, könnte es sich auch um das scharf gesprochene, aber weich geschriebene S wie in los
handeln, oder gar um das summende S, das wir in Rose
sprechen. Das scharfe S ist ein Eigenname. Eigentlich müßte man vorne großschreiben.
Beachten Sie bitte, daß im Namen ein Majuskel (Großbuchstabe) steckt und kein Minuskel (Kleinbuchstabe): das scharfe S
. Der Majuskel S
ist eine Sigle, der das Wort /es/, den Namen des Buchstabens, als Bildzeichen darstellt, so wie der Mercedesstern als Sigle für Mercedes
steht. Wenn wir ein Wort in Majuskeln schreiben, S oder AGBDer Unterschied zwischen Siglen- und phonetischer Schreibung wird im Tutorial über die Schreibung von Akronymen genau erklärt., dann bezeichnet der Buchstabe keinen Laut, sondern steht für sich selbst. So sprechen wir s
als /s/, aber S
als /es/. Beim Majuskel sprechen wir den Namen des Buchstabens aus und nicht nur den Laut, den er sonst als Schriftzeichen bezeichnet.
Wir könnten auch schreiben: das scharfe Es
: Lesen Sie gefälligst unser Agebes, ich mache Sie fertig, wie Hitler Frankreich überrannt hat. Wir sehen uns vor Gericht!
So reden Deutsche am Telefon, aber beim Schreiben bevorzugen sie die Siglenschreibung die AGB
oder die phonetische Schreibung die AGBs
(= die /a-ge-be-s/).
Wenn nun einer das scharfe ß
schreibt, dann ist das ein Pleonasmus, da hat Julian von Heyl ganz recht. Aber ein Fehler ist es nicht. Diese Schreibung ist bloß ikonisch. Daß ß
ein Minuskel ist, stellt kein Problem dar. Denn wir schreiben auch: Das Adjektiv
. Die IkonizitätTutorial: Ikonizität in der Sprache überwiegt hier die Siglenkonvention. Und da das Eszett nur als Kleinbuchstabe auftaucht, kann man durchaus schön
schreibt man mit kleinem sdas scharfe ß
schreiben.