Deutsch ins Grundgesetz?
sprache
Die CDU möchte die deutsche Sprache als Sprache der Bundesrepublik im Grundgesetz festschreiben und beruft sich dabei auf eine breite Mehrheit unter den Deutschen, die der Meinung seien, es müsse etwas für die deutsche Sprache getan werden. Sie drohe zu verrohen. Doch ist die deutsche Sprache tatsächlich bedroht? Was würde eine Änderung des Grundgesetzes bringen?
Dauer: 81 Minuten.
Schutz der deutschen Sprache durch das Grundgesetz?
Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Frage, ob die deutsche Sprache auf den Schutz durch den Staat angewiesen ist. Verbietet das Grundgesetz in seiner jetzigen Fassung staatliche Sprachpflege? Wem gehört die deutsche Sprache überhaupt?
Sprachpflege im Grundgesetz
In der ZDF-Sendung Maybritt Illner plädierte der Sprachpfleger Wolf Schneider für eine Erweiterung des Grundgesetzes. Er versteht nicht, was gegen ein solches Bekenntnis zur deutschen Sprache einzuwenden ist und hält die Gegner unpatriotisch:
Der Sprachkritiker Wolf Schneider kann sich eine Grundgesetzänderung zum Schutz der deutschen Sprache vorstellen. Er habe diese Proklamation zunächst für "halbwegs entbehrlich" gehalten, bekannte Schneider. Die Verweigerung dieser "bloßen Geste" jedoch sei "Ausdruck einer merkwürdigen Gesinnung", so der Sprachexperte. In der Debatte werde klar, dass die Deutschen "mal wieder die unpatriotischsten Menschen auf der Welt" sein müssten. "Dass wir keine Nationalisten sind, genügt uns nicht, wir möchten die Leisetreter der Erde sein."
Maybritt Illner (11.12.2008)
Herr Schneider übersieht allerdings, daß das Grundgesetz nicht der geeignete Ort für Bekenntnisse oder Gesten ist. Das Grundgesetz ist unmittelbar geltendes Recht, dessen Einhaltung vor dem Bundesverfassungsgericht einklagbar ist. Dies gilt insbesondere für den vorstaatlichen Teil:
Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.
Grundgesetz, Artikel 1, Absatz 3
Man kann dagegenhalten, daß es auf der einen Seite einen Wortlaut der Verfassung und auf der anderen eine Verfassungswirklichkeit gibt. Ändert man das Grundgesetz, kann man jedoch nicht voraussagen, welche Wirklichkeit sich daraus ergeben wird.
Struktur des Grundgesetzes
Es gibt allerdings noch weitere Einwände. Das deutsche Grundgesetz hebt sich durch seine strenge Struktur von den Verfassungen der Welt ab. Es gliedert sich in zwei Teile: die freiheitliche Grundordnung und den Aufbau der Bundesrepublik Deutschland.
Freiheitliche Grundordnung
In den ersten neunzehn Artikeln des Grundgesetzes ist von der Bundesrepublik Deutschland kein einziges Mal die Rede. Sie existiert hier noch gar nicht, denn die freiheitliche Grundordnung beschäftigt sich nur mit den Dingen, die bereits vor dem Staat da sind und auch noch weiter existieren, wenn die Bundesrepublik ihr Ende erreicht und von einem anderen Staat oder der größten Punkparty der Welt abgelöst wird.
Diese vorstaatlichen
Dinge sind vor allem die Grundrechte:
- 1
- Menschenwürde
- 2
- Unversehrtheit
- 3
- Gleichheit
- 4
- Gedankenfreiheit
- 5
- Freie Meinungsäußerung
- 6
- Schutz von Ehe und Familie
- 7
- Schulwesen
- 8
- Versammlungsfreiheit
- 9
- Vereinigungsfreiheit
- 10
- Postgeheimnis
- 11
- Freizügigkeit
- 12
- Berufsfreiheit
- 13
- Wohnung
- 14
- Eigentum
- 15
- Sozialisierung
- 16
- Staatsangehörigkeit
- 17
- Petitionsrecht
- 18
- Grundrechtsverwirkung
- 19
- Einschränkung von Grundrechten
Staatsaufbau
Erst Artikel 20 erweckt die Bundesrepublik zum Leben. Von hier an beschäftigt sich das Grundgesetz mit dem Aufbau des Staates und seinen Institutionen:
- 20
- Bundesstaat
- 20a
- Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen
- 21
- Politische Parteien in Deutschland
- 22
- Hauptstadt und Bundesflagge
- …
Vorstaatlich oder staatlich?
Das Grundgesetz gliedert sich also in einen vorstaatlichen und in einen darauffolgenden staatlichen Teil. Da der Staat erst nach dem vorstaatlichen Teil entsteht, hat er keinen Zugriff auf die freiheitliche Grundordnung. Dies und die Einklagbarkeit der Grundrechte wird in den Artikeln 18 und 19 garantiert. Sie schirmen den vorstaatlichen Teil vom staatlichen ab, und damit vom Staat selbst.
Daraus ergibt sich die Frage, in welchem der beide Teile die deutsche Sprache verankert werden soll. Die Würde des Menschen und die Meinungsfreiheit bestanden als Naturrecht vor Gründung des Staats und enden auch nicht mit ihm. Sie sind ausdrücklich ewiglich. Die Deutschen haben bereits vor Gründung der Bundesrepublik Deutsch gesprochen und werden es noch tun, wenn die Bundesrepublik längst vergangen ist.
Die Sprache gehört ihrem Wesen nach also in den vorstaatlichen Teil. Dorthin gehört sie vor allem auch deshalb, weil der Staat keinen Zugriff auf die Sprache erlangen darf. So wird verhindert, daß der Innenminister Sprache und Denken zu seinem Vorteil manipuliert und Neusprechdiktionäre herausgibt, in denen er die Vokabel Totalitarismus
für alle verbindlich durch Schutz der Freiheit
ersetzt oder Semidiktatur
durch Kampf gegen Terror
. Aus Krieg
könnte am Ende ein Mandat
werden.
Nun sehen wir uns an, welchen konkreten Vorschlag die CDU präsentiert:
Artikel 22
Die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland ist Berlin. Die Repräsentation des Gesamtstaates in der Hauptstadt ist Aufgabe des Bundes. Das Nähere wird durch Bundesgesetz geregelt.
Die Bundesflagge ist schwarz-rot-gold.
Die Sprache der Bundesrepublik ist Deutsch.
Die Sprache soll also im staatlichen Teil verankert werden. Sie gerät damit in den Besitz des Staates. Daß die Wahl auf Artikel 22 fiel, legt nahe, daß die CDU in der deutschen Sprache ein Staatssymbol sieht. Wie die deutsche Flagge. Sobald die Sprache Teil des Staates ist, kann der Staat alles Nähere
in einem Gesetz oder einem Erlaß regeln. Am Beispiel der Flagge sieht das so aus: Grundgesetzänderung Es bedarf einer Mehrheit von zwei Dritteln in beiden Kammern, um das Grundgesetz zu ändern. Die freiheitliche Grundordnung und einige Bereiche des Staatsaufbaus (wie die Bundesländer) können jedoch nicht geändert werden.
Beflaggungserlaß der Bundesregierung vom 22. März 2005:
Eine Beflaggung (…) wird vom Bundesministerium des Innern angeordnet, gegebenenfalls im Einvernehmen mit den zuständigen Fachministerien. In Fällen von besonderer Bedeutung entscheidet die Bundesregierung.
Im Ordnungswidrigkeitengesetz oder im Strafgesetz legt der Staat dann fest, was mit Leuten geschieht, die sich an seinem Besitz vergreifen:
Ordnungswidrig handelt, wer unbefugt (…) eine Dienstflagge des Bundes oder eines Landes benutzt. (…) Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße geahndet werden.
Motive für eine Verfassungsänderung
Hier stellt sich die Frage, warum die CDU die deutsche Sprache überhaupt zur Landessprache machen möchte.
Der verständliche Staat
Ein Motiv wird immer wieder genannt: Indem die deutsche Sprache im Grundgesetz verankert wird, wird der Staat gezwungen, Gesetze in einer verständlicheren Sprache zu formulieren.
Hier schwebt den Befürwortern wohl die Idee vor, ein Nichtjurist könnte das Rechtssystem durchdringen, sobald Gesetze umgangssprachlicher formuliert würden. Aber bereits der Kaufvertrag ist ein hochkomplexer Rechtsakt, bei dem eine stattliche Anzahl von Paragrafen, die im Bürgerlichen Gesetzbuch nicht einmal aufeinanderfolgen, sondern über mehrere Bereiche verstreut sind, miteinander agieren. Diese Komplexität ist kein wucherndes Durcheinander, sondern das Ergebnis einer sehr langen Entwicklung des Rechtswesens.
Ansporn für Immigranten
Ein zweites Motiv dürfte der CDU allerdings wichtiger sein. In der Begründung des Antrags heißt es:
Gerade Bürgerinnen und Bürger unseres Landes mit Migrationshintergrund können deshalb eine solche Verfassungsergänzung als Ansporn begreifen, die deutsche Sprache als Schlüssel für eine erfolgreiche Integration zu verstehen.
CDU-Antrag
Der Staat als Sprachpfleger
Ein weiterer Grund richtet sich an Deutsche mit Hang zur Spracheugenik:
Fast 80 Prozent der Deutschen sind einer aktuellen Umfrage des "Instituts für Deutsche Sprache" zufolge der Auffassung, dass mehr für die deutsche Sprache getan werden sollte und für zwei Drittel und sogar 53 Prozent der Jugendlichen droht die Deutsche Sprache "immer mehr zu verkommen". Für sie sind gerade die Anglizismen ein Indiz für den Verfall der deutschen Sprache. Dabei machen die Anglizismen nur ein Prozent unseres ca. 500.000 Wörter umfassenden Wortschatzes aus.
Wolfgang Börnsen, Dorothee Bär: Sprache pflegen und stärken (cdu.de)
Die deutsche Sprache ist also angeblich von fremden Sprachen und fremden Menschen bedroht. Die Verfassungsänderung wäre nichts anderes als eine Verankerung der Leitkultur im Grundgesetz.
Tatsächlich gibt es eine aktuelle Umfrage der Gesellschaft für deutsche Sprache. Über die jungen Menschen behauptet sie allerdings das Gegenteil:
Die Verwendung englischer Wörter stört junge Deutsche ganz überwiegend nicht. Seltener als Ältere bedauern sie die Verdrängung der deutschen Sprache, urteilen dagegen häufiger, dass dies die Verständigung mit dem Ausland erleichtert oder die deutsche Sprache moderner, internationaler macht.
Pressemitteilung zur repäsentativen Studie
Übrigens wurden darin die meisten Jugendlichen gar nicht befragt. Das Mindestalter betrug nämlich sechzehn Jahre. Natürlich ist ein derartiger Meinungsunterschied zwischen Jung und Alt gang und gäbe. Sowohl die Angst der Alten, als auch das naive und falsche Argument der Jungen findet man überall auf der Welt.
Ist die deutsche Sprache bedroht?
Die CDU sieht die erste Bedrohung darin, daß Einwanderer und deren Kinder die deutsche Sprache nur rudimentär erlernen. Auf dieser rudimentären Ebene entwickelt die Sprache der Einwanderer ein Eigenleben. Sie wird zu Karnaksprak, einer Pidginsprache.
Bedrohung durch Pidgin-Deutsch
Stehen sich Pidgindeutsch und Standarddeutsch gegenüber, besteht tatsächlich eine Sprachkontaktsituation. Für Sprachkontakte gelten allerdings mechanische Regeln: Eine der beiden Sprechergruppen ist die privilegierte Gruppe, die andere die unterprivilegierte. Die privilegierte muß nicht unbedingt die größere Gruppe sein; meist wird sie durch Wissen, fortgeschrittenere Technik oder Eigentum dazu.
In diesem Fall liegen Arbeitsplätze, soziales Ansehen und Wohlstand allein bei den Standarddeutschen. Die Bürger der Bundesrepublik sind also die privilegierte Gruppe. Die Pidgindeutschen müssen ihre häretischen Eigenschaften weitgehend aufgeben, um Teil dieser Gruppe werden zu können. Eine Integration unter Beibehaltung dieser Eigenschaften wäre historisch beispiellos.
Die Begründung der CDU zeigt, daß sie es für nötig hält, der unterprivilegierten Gruppe der Einwanderer über das Grundgesetz eine Botschaft zu senden. Dies ist jedoch überflüssig. Die privilegierte Gruppe selbst ist die Botschaft.
Bedrohung durch Anglizismen
Eine weitere Bedrohung für die deutsche Sprache geht nach Ansicht vieler von Anglizismen aus. Die Sprache hat jedoch ein Immunsystem für ihren Wort- und Formenschatz.
Der Wortschatz des Deutschen ist in mehrere Schichten gegliedert. Den äußeren Ring (gepunktete Linie) durchdringen fremdländische Wörter leicht und immer dann, wenn sie in einem deutschen Satz verwendet werden. Hier liegen Fachwortschätze oder EntlehnungenVideo-Tutorial: Anglizismus und Entlehnungen ins Deutsche einzelner, zum Beispiel englische Modebegriffe (Clearing, Portfolio)
.
In den inneren Kreis des Kernwortschatzes gelangen Wörter jedoch nur, wenn sie von einer Mehrheit in allen Lebenslagen verwendet werden.
Der Kernwortschatz ist voll von Lehnwörtern, in so starkem Maße sogar, daß man die Entlehnung als die zweitproduktivste Quelle neuer Wörter nach der Nominalkomposition (Netz-Werk-Administrator)
bezeichnen kann: Grippe
(Französisch), Hai
(Isländisch), Kutsche
(Ungarisch), Geographie
(Griechisch), Fenster
(Lateinisch). Dieselben Zustände herrschen in anderen Sprachen: Schweden bezeichnen die erlebte Rede als erlebte rede
, obwohl sie aus Frankreich stammt, im Englischen bezeichnet man einen übereifrigen Menschen als gung-ho
(aus dem Chinesischen entlehnt).
Im Journalismus beliebten Falschübersetzungen aus dem Englischen wie Obama-Administration
(für Obama-Regierung
), Präsidentschaft
(aus presidency
), einmal mehr
(für wieder
aus once more
) oder harte Arbeit
(für Anstrengung
aus hard work
) gelingt es nur selten, im allgemeinen Sprachgebrauch Fuß zu fassen.
Stilistisch anspruchsvollen Sprechern mögen sie dort unangenehm auffallen, im Rahmen der langfristigen Sprachentwicklung ist gegen sie jedoch nichts einzuwenden. Sie werden schon in der nächsten Generation als guter Stil empfunden werden. Niemand nimmt heute noch an Technologie
(fälschlich für Technik
) Anstoß. Auch dem Wort Portfolio
ist es innerhalb weniger Jahre gelungen, in den Ohren der Mehrheit nicht mehr lächerlich zu klingen (in den Ohren einer Minderheit freilich nicht).
Bestrebungen der Public Relation, einen Auskunftsschalter in Clearing
umzubenennen, gehen vielleicht einigen oder vielen Kunden auf die Nerven. Sie stellen jedoch keinen Anlaß zur Sorge dar. Solche Anglizismen schaffen es nicht in den abgeschirmten Kreis des Kernwortschatzes.
Dies gilt auch für fremdländische Fachausdrücke wie Exploit
oder Cloud Computing
. Sollte die Mehrheit allerdings Gefallen am Cloudcomputing finden, wird dieser Ausdruck vorübergehend in aller Munde sein, bis Cloudcomputing irgendwann die einzige Art ist, einen Computer zu betreiben. Es wird allerdings nicht in den Kernwortschatz vorstoßen, sondern immer mit der Sache verbunden bleiben.
Wörter wie Handy
oder iPod
haben es deshalb geschafft, weil sie für populäre Erfindungen stehen und außerdem eine Silbenstruktur aufweisen, die mit der des Deutschen hochkompatibel ist (ebenso Twitter
und Blog
). Der Name Zune
erfüllt gegenüber iPod
beide Kriterien nicht.