Stop Making Sense
sprache
Die englische Wendung ›to make sense‹ hat sich in den letzten Jahren als ›Sinn machen‹ in die deutsche Sprache eingeschlichen. Aus deutscher Sicht scheinen die Englischsprecher alle manischer Machertypen zu sein, denn Sinn läßt sich im Deutschen nicht machen; er kann sich bestenfalls ergeben. Doch der Schein trügt.
Dauer: 51 Minuten.
Sinn kann man nicht machen
So gut wie alles kann man im Deutschen mit dem Verbum machen
verknüpfen: Man kann Spaß oder Ernst machen, ein Vermögen oder Liebe machen, Urlaub oder Probleme machen. Zwei Schwalben können einen Sommer machen und zwei mal zwei können vier machen. Etwas kann einem nichts machen, ja, sogar Unsinn kann man im Deutschen machen. Nur eines anscheinend nicht: Sinn machen.
Dennoch hat sich in den letzten Jahren die Wendung Das macht (keinen) Sinn
in die deutsche Sprache eingeschlichen:
Das macht betriebswirtschaftlich nur dann Sinn, wenn …
Bei den meisten Deutschsprechern stößt diese Wendung allerdings auf Ablehnung. Sinn kann sich im deutschen Sprachbewußtsein ergeben, selbst herstellen, produzieren, machen kann man ihn nicht. Mit Leichtigkeit identifizieren viele die Wendung als Anglizismus oder als Amerikanismus, denn gerade die Amerikaner scheinen richtige Machertypen zu sein. Was wird in den USA nicht alles gemacht: make money, make love, make sense
.
Wahr ist an diesem Eindruck, daß Sinn machen ein AnglizismusVideo-Tutorial: Anglizismus in der deutschen Sprache. ist. Er stammt jedoch nicht aus Amerika, sondern aus Großbritannien und ist dort etwa zweihundertfünfzig Jahre alt.
Unwahr ist allerdings der Eindruck, das Englische wäre einer Machersprache. Wer das englische make sense
mit Sinn machen
eindeutscht, übersetzt die Bedeutung der beiden Elemente der englischen Wendung falsch und unterstellt ihnen etwas, was sie im englischen Sprachbewußtsein nicht haben. Denn weder deckt sich die Bedeutung von to make
mit dem deutschen machen
noch sense
mit dem deutschen Sinn
. Diese Begriffe sind false friends, Übersetzungsfallen der perfiden Art.
to make
und machen
Wesentlich ist der Bedeutungsunterschied zwischen dem englischen to make
und dem deutschen machen
.
Bidirektionalität von machen
Das englische Verbum to make stammt vom altniederdeutschen makōn
, denn das Englische ist in seinem Ursprung ein Steckling des Deutschen, genauer gesagt des Altsächsischen, dem wichtigsten Dialekt des Altniederdeutschen. Erst in mittelenglischer Zeit gewinnt der anglische Dialekt die Oberhand über das Gesamtenglische. Zudem liegt das Englische auf einem latino-
Viele Verben besaßen im Frühmittelalter noch mehrere Aspekte oder besser Richtungen, in die sich die Handlung vollziehen konnte. Das sieht man heute noch sehr schön an dem false friend bekommen
und englisch to become
.
Das althochdeutsche bequeman
schildert die Annäherung zwischen dem Subjekt (meist eine Person) und etwas anderem. Dabei konnte sich sowohl das Subjekt dem anderen nähern als auch umgekehrt das andere auf das Subjekt zukommen. Beide Sprachen haben die Fähigkeit des Verbums aufgegeben, beide Richtungen ausdrücken. So kommt beim deutschen Verbum bekommen
das andere auf einen zu: Man erhält also etwas. Im Englischen ist es umgekehrt. Hier bewegt sich das Subjekt auf etwas anderes zu. Das andere ist also das Ziel der Bewegung und meist abstrakt. So bedeutet to become
die Bewegung des Subjekts in die Zukunft, also werden
.
Beim Verbum schaffen
hat das Deutsche nicht eine der beiden Richtungen getilgt, sondern das Verbum in zwei Verben aufgesplittet. Im Sinne von erschaffen
wird schaffen
stark gebeugt: ich schuf
. Das schwache Verb bedeutet dagegen, daß man wohingelangt: Ich schaffte es nicht ans Ziel
.
Auch das Verbum machen
ist bidirektional. Wie beim Bekommen hat sich das Deutsche schon sehr früh für eine Seite entschieden: das Machen, das Fabrizieren, das Herstellen, das Durchführen und das Vollbringen.
Diese Bedeutung bestimmt das Verbum machen
im Hochdeutschen, das heißt dem Deutsch des Südens, beinahe ausschließlich. Zudem hat sich machen
im Laufe der Zeit immer weiter ausgebreitet und Verben mit einst ähnlicher Bedeutung, wie zum Beispiel tun
und wirken
, an den Rand gedrängt.
Altenglisch macian
Das englische to make
schlägt in frühenglischer Zeit einen anderen Weg ein. Hier wird die andere Richtung ausgebaut. Dabei wird nichts gemacht, sondern etwas erreicht: Die Wendung We made it!
bedeutet nicht, daß wir etwas gemacht (geschaffen), haben, sondern umgekehrt, daß wir es erreicht (geschafft) haben.
Diese Bedeutung ist heute noch in vielen Wendungen nachzuweisen; to make port
beschreibt nicht das Gründen oder Erbauen eines Hafens, sondern das Anlangen oder Erreichen dort. To make land
bedeutet, daß man Land sichtet, es also an Land geschafft hat. Die Wendung to make the team
bedeutet nicht, daß eine Mannschaft gegründet wird, sondern daß es einer in die Mannschaft schafft.
Die englische Richtung dieses Verbums findet sich auch weniger ausgeprägt im Niederdeutschen, das dem Englischen sprachgeschichtlich viel näher steht als das Hochdeutsche. So sagt man, ein Schiff mache
fünf Knoten. Die Knoten werden aber nicht erschaffen, gemacht, geknotet — es ist eine Geschwindigkeit, die das Schiff erreicht, geschafft hat.
Das altenglische Verb macian
entspricht also nicht dem althochdeutschen mahhōn
. Wo im Deutschen gemacht wird, wird im Altenglischen gewirkt. Das Verbum gewyrcan
ist im Altenglischen der allgemeine Begriff für machen
.
Mit der Vorsilbe ge∙
konnten sowohl im mittelalterlichen Deutsch als auch im Englischen Verben perfektiviertVideo-Tutorial mit ausführlichem Artikel: Tempus und Aspekt im Deutschen werden. Ein Verbum ist perfektiv, wenn sich die Handlung beim Vollzug verändert und in ein Resultat mündet, das sich vom Anfang unterscheidet: einschlafen, erwachen, sterben, heimgehen
. Es ist dagegen imperfektiv, wenn die Handlung sich nicht verändert und nicht in ein Ergebnis mündet: schlafen, wachen, leben, herumgehen
. Im Mittelalter konnte ein imperfektives Verb durch die Vorsilbe ge∙
perfektiviert werden. Aus ich saß
wurde noch im Mittelhochdeutschen durch die Vorsilbe ge∙
ein ich setzte mich
: ich gesaß
.
Im Übergang zum Neuhochdeutschen wurde ge∙
entweder lexikalisiert (wie in ge∙denken
oder ge∙raten
) oder grammatikalisiert (wie im Mittelwort der Vergangenheit: ge-gangen, ge∙sagt, ge∙schlafen
). Das Englische hat die Vorsilbe allerdings ganz aufgegeben und einfach gestrichen. Das hatte zur Folge, daß auch ge∙wyrkan
machen, herstellen, vollbringen, vollziehen, durchführen
ausstarb, während das imperfektive Pendant wyrcan
zum heutigen to work
wurde. To work ist nicht wie gewyrcan
ein Erschaffen, also ein Machen, das in ein Produkt mündet, sondern fortdauerndes Machen, das immer wieder von vorn beginnt.
Erst von da wächst wieder to make
in der Bedeutung, die dem deutschen machen
innewohnt. Doch mit ihm wächst to do
. Aus diesem Grund findet man in vielen englischen Wendungen to do
, wo das Deutsche machen
verwendet. Der Anwendungsumfang des englischen to do
ist viel größer als des deutschen Verbums tun
.
Das Verbum macian
/to make
bedeutet ankommen, erreichen, angelangen
in dem Sinne, daß man es wunschgemäß schafft. To become
ist dagegen ein Werden, mit dem kein Wille verbunden ist. Drittens gibt es noch to shall
und to will
, die ein Werden aus einem Sollen und einem Wollen ableiten. In diesem System gab es keinen Platz für weorðan
, dem etymologischen Pendant zum deutschen werden
. Es starb früh aus.
False friend: to make
≠ machen
Seit der Entstehung des Englischen vor anderthalb Jahrtausenden hat sich to make
also anders entwickelt als das hochdeutsche machen
. Jenes blieb bidirektional, dieses wurde früh auf die Bedeutung machen, bewirken, herstellen, durchführen, vollziehen
eingeengt. Auch wenn die beiden Verben etymologisch aus dem gleichen Ursprung stammen und ähnlich klingen, kann sich ihre Bedeutung im modernen Deutschen und im modernen Englischen unmöglich decken. Das führt dazu, daß man to make
leichtfertig mit machen
übersetzt.
Im Kopf eines Englischsprechers spielt sich dort, wo er to make
verwendet, aber selten ein Machen im deutschen Sinne ab. So bedeutet die Wendung to make money
nicht, daß Geld gemacht würde. Der Englischsprecher bringt es seinem Sprachempfinden nach vielmehr zu Geld.
Wer die Bedeutung des englischen to make
nicht ermißt, gelangt zu dem Eindruck, im Englischen würde ständig alles gemacht. Das ist jedoch eine Unterstellung. Nicht das Englische ist eine Machersprache, sondern das Deutsche.
Sinn machen
Nicht nur im Deutschen läßt sich also Sinn nicht machen, sondern auch nicht im Englischen. In beiden Sprachen kann sich Sinn nur ergeben.
False friend: Sense
≠ Sinn
Auch das andere Element in make sense
ist eine translation trap
, eine Übersetzungsfalle. Dem geschulten Auge fällt auf den ersten Blick auf, daß sense
ein zweites Ess enthält, das man in Sinn
nicht findet. Dieser Unterschied ist lautgeschichtlich nicht zu erklären.
Die beiden Wörter klingen zwar ähnlich und scheinen auch dasselbe zu bedeuten; sie können aber etymologisch nicht näher verwandt sein, weswegen auch jede semantische Übereinstimmung nur zufällig sein kann.
Es ist also zunächst völlig ungewiß, ob mit sense
in der Wendung make sense
wirklich das gemeint ist, was das Deutsche unter Sinn
versteht. Eine völlige Übereinstimmung der Bedeutungen ist jedoch jetzt schon ausgeschlossen.
Sinn
im heutigen Deutschen
Die Bedeutung von Sinn ist im heutigen Deutschen vielfältig: Es bezeichnet zunächst die fünf Sinne.
Zweitens werden diese durch Sinneswahrnehmung gewonnenen Sinneseindrücke im Kopf verarbeitet: etwas im Sinn haben; im Sinne des Erfinders; mein Sinn steht nicht danach
. Zu dieser kognitiven Bedeutung gehören heute alle Verbzusammensetzungen mit sinnen
: über etwas nachsinnen, sich zu guter Letzt doch noch besinnen, versonnen aus dem Fenster blicken
. Nicht jedoch das Simplex sinnen
wie in nach Rache sinnen
! Einfaches Sinnen
bedeutet nicht wahrnehmen und darüber nachdenken
; dafür wird heute die Ableitung sinnieren verwendet, die allerdings eher seinen Gedanken nachhängen
bedeutet.
Die dritte Wendung unterscheidet sich von den beiden ersten: die Sinnesfülle. Hier ergibt sich der Sinn am Ende eines Vorhabens, eines Weges, einer Entwicklung. Im deutschen Sprachverständnis entzieht sich dieser finale Sinn dem menschlichen Eingriff und liegt in der Hand Gottes oder wahlweise der Emergenz der Dinge: Am Ende ergibt etwas Sinn oder eben nicht.
Sinn hat im Deutschen heute also also drei Bedeutungen:
- Perzeptive Bedeutung: Sinneswahrnehmung, die fünf Sinne
- Kognitive Bedeutung: etwas im Sinn haben
- Finale Bedeutung: Sinnesfülle, Sinn, der sich ergibt
Sin
im älteren Deutschen
Bis zum Ende des Mittelalters besaß der Sinn nur die erste Bedeutung. Das althochdeutsche und mittelhochdeutsche sin
bezeichnet allein die Sinneswahrnehmung. Deshalb konnten auch viele Ableitungen davon nicht bedeuten, was sie heute bedeuten:
Unsin
ist der totale Verlust seiner fünf Sinne, also die Bewußtlosigkeit, oder ein Ausfall einzelner Sinne, was in Torheit oder Raserei mündet. Das Adjektiv sinnīg
bezeichnet eine Person, die über ihre fünf Sinne verfügt. Wer das nicht tut, galt als sinnelōs
. Unter sinnigī
verstand man die Fähigkeit, seine Sinne klug einzusetzen: also den Verstand.
Der heutige Unsinn und das Adjektiv sinnlos sind daraus hervorgegangen: Wer bei einem Vorhaben seine Sinne nicht richtig einsetzt, Ziel und Gegenstand aus dem Blick verliert, kann am Ende nichts Rechtes hervorbringen.
Die sinnelōsi ist der althochdeutsche Ausdruck für Wahnsinn
, wohingegen wan damals keinen Wahn, sondern die Vorstellung bezeichnete. Wer etwas nicht in seiner wahren Gestalt kennt, weil er es nie gesehen oder erlebt hat, muß sich ersatzweise ein Bild davon ausmalen, das er vor die wahre Gestalt stellt: Vorstellung
. Dies hat man einst als Wahn
bezeichnet, wie man am davon abgeleiteten Verbum wähnen
noch deutlich erkennt. Der Wahnsinn ist also ein wähnender Sinn. Man sieht also etwas nur in Gedanken, aber nicht in Wirklichkeit.
Sinnen
Neben dem Substantiv Sinn
gibt es auch ein Verbum sinnen
. Man kann über etwas Nachsinnen, sich besinnen oder versonnen sein. Man kann etwas ersinnen. All diese Verben sind zusammengesetzt und bezeichnen Handlungen, die mit der denkerischen oder kognitiven Bedeutung des Sinns zusammenhängen. Vom Substantiv ist zudem das Sinnieren abgeleitet — nicht vom Sinnen!
Denn das Verbum sinnen hatte und hat eine ganz andere Bedeutung als das Substantiv. Es bedeutet gehen
, ist also ein Verbum der räumlichen Fortbewegung:
Es ist uns noch unklar, ob die Begriffe Uhrzeigersinn, Drehsinn, Umlaufsinn
direkt damit zu tun haben.
Oder:
Thaz líoht ist filu wár thing, inlíuhtit thesan wóroltring, joh ménnisgon ouh álle, ther hera in wórolt sinne.
Das Licht ist eine ganz wahrhaftige Sache, es erhellt den Erdkreis, sowohl den Menschen als auch jeden, der hier auf der Welt umhergeht.
Die zusammengesetzten Verben sich besinnen, (sich) versinnen, ersinnen, nachsinnen
sind wahrscheinlich eine Kombination aus dem denkerischen Sinn und der Fortbewegung sinnen
, die hier übertragen gebraucht wird. Gewiß steckt die Fortbewegung aber heute noch ausschließlich im Simplex sinnen
wie in der Wendung nach Rache sinnen
. Auch wenn wir sie heute als an Rache denken
verstehen, ist es tatsächlich ein ziemlich räumliches Trachten nach Rache.
Urindogermanisch senh₂∙
Wie läßt sich der Sinn als Wahnehmung mit dem Sinnen als Fortbewegung unter einen Hut bringen? Beides geht auf die urindogermanischeVideo-Tutorial: Indogermanisch und nicht indoeuropäisch Wurzel sen∙h₂∙ zurück, die Wahrnehmung mit der Fortbewegung verknüpft: Am Beginn steht eine Witterung, dann folgt man einer Fährte oder Spur. Gegangen wurde als im Sinne einer Jagd. Beide Begriffe wurden aus dem Indogermanischen ins Germanische vererbt und von dort ins Deutsche.
Englisch sense
Anders im Englischen. Bereits im Altniederdeutschen gibt es den Sinn und das Sinnen so gut wie nicht mehr. Nur das Hochdeutsche im Süden hat diese Begriffe stark ausgebaut und bewahrt. Das Altenglische kennt zwar noch ein Verbum sinnan
mit unscharfer Bedeutung, aber kein Substantiv sin
. Dafür steht im Altenglischen der Begriff and∙giet
, das buchstäblich Emp∙Fangen
bedeutet.
Was auch immer das altenglische sinnan
bedeutet hat, spielt keine Rolle, weil sich zum Mittelenglischen viele Lautveränderung im Englischen ereignen, wodurch sinnen
lautlich mit sinnen
sünden
kollidiert und deshalb ausstirbt. Am Beginn des Mittelenglischen stirbt also die gesamte Wortsippe aus westgermanisch sin
aus.
Dieses Vakuum füllt das Englische mit einer Entlehnung aus dem Französischen: Es macht le sens
zu englisch sense
. Den hat das Französische wiederum vom Lateinischen ererbt. Dort gibt es das Substantiv sēnsus
und das Verbum sentīre
.
Die beiden lateinischen Begriffe stammen von sen∙t∙, einer Variante zum urindogermanischen senh₂∙
. Worin sich die beiden Varianten der Wurzel unterscheiden, wissen wir nicht. Aber auch sen∙t bezeichnete sowohl die Sinneswahrnehmung, als auch das Gehen. Das wissen wir vom deutschen Verbum senden
, das eine KausativableitungWas ist ein Kausativ? aus sen∙t
ist (aus *son∙t∙éj-
). Eine Kausativableitung bezeichnet das Bewirken dessen, was die Ableitungsbasis zur Bedeutung hat. Aus gehen
wird also: gehen machen; bewirken, daß gegangen wird
. Genau das bedeutet senden: Man beauftragt etwas oder jemand zu gehen.
Das Lateinische hat den Aspekt der Fortbewegung in sēnsus
und sentīre
gänzlich getilgt. Hier geht es ganz um die Wahrnehmung und deren geistige Verarbeitung. Deshalb ist auch der französische sens
ein reiner sens naturel
. Der englische sense ist also auf die Wahrnehmung beschränkt, sein Bedeutungsumfang deutlich kleiner als der des deutschen Sinns. Ihm fehlt der denkerische Sinn völlig. Wo man im Deutschen etwas im Sinn hat, muß das Englische zu anderen Vokabeln greifen:
Auch die Fortbewegung des Sinnens ist dem sense
unbekannt. Dennoch gibt es im Englischen den Ausdruck the sense of life
, der gewöhnlich mit der Sinn des Lebens
ins Deutsche übersetzt wird.
Es ist jedoch unwahrscheinlich, daß diese beiden Ausdrücke wirklich identisch sind. Der sense of life
kann sich nur aus der Sinneswahrnehmung entwickelt haben: Nimmt man etwas aus einem bestimmten Blickwinkel wahr, erhält das Objekt der Betrachtung eine bestimmte Bedeutung. Etwas kann verschiedene Bedeutungen bekommen, je nachdem wie man es betrachtet.
The sense of life
ist also die Bedeutung des Lebens
und nicht sein Sinn. Denn der deutsche Sinn des Lebens
ist das, wohin das Leben als Weg und Entwicklung führt. Wozu ist das Leben gut, was hat der liebe Gott oder wahlweise die Evolution am Ende davon?
Dies kann die englische Wendung aus sich selbst heraus nicht bedeuten, wenn es nicht in der Aufklärung zu einem Sprachkontakt mit dem Deutschen gekommen ist. Die Aufklärung beschäftigt sich intensiv mit den fünf Sinnen. To make sense
bedeutet in jener Zeit noch seine Sinne gebrauchen
, vor allem in to make sense of judge
, was man heute als to use one’s common sense
formulieren würde: seinen gesunden Menschenverstand gebrauchen. Auch im Deutschen gibt es durch die Philosophie der Neuzeit viele weitere Sinne: den Eigensinn, den Gemeinsinn, den sechsten oder gar den siebten Sinn.
make sense
It doesn’t make sense
ist eine Verkürzung aus It doesn’t make sense to me
. → Aus meiner Sicht hat die Sache keine Bedeutung. → Ich kann in der Sache aus meiner Sicht keine Bedeutung erkennen.
In dieser Bedeutung taucht die Wendung zum erstenmal in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im britischen Englisch auf und gilt von Anfang an als stilistisch gut.
Die exakteste Übersetzung ins Deutsche lautet: Das ergibt keine Bedeutung. Make
kann man nicht mit machen
ins Deutsche übertragen, sense
kann man ungenauer, aber praktischer mit Sinn
übersetzen.
Fragen von Lesern und Zuschauern
Zu guter Letzt noch Fragen von Zuschauern und Lesern zum Tutorial.
Sentimental
Der Ausdruck sentimental stammt aus dem Englischen. Er wurde von dem englischen Schriftsteller Laurence Sterne erschaffen, indem er für seinen Roman A Sentimental Journey Through France and Italy (1768) vom Substantiv sentiment
das Adjektiv sentimental
ableitete. Der Roman wurde noch im Jahr seines Erscheinens von dem Übersetzer Johann Christoph BodeExterner Link zu Wikipedia: Johann Christoph Bode. ins Deutsche übersetzt. Sentimental
wurde dabei als empfindsam
eingedeutscht, gelangte aber auch selbst ins Deutsche.
Wir befinden uns in der Zeit der Empfindsamkeit und der Aufklärung, bei der es darum geht, die Vorstellung über die Welt aus der Zeit des Mittelalters und des Rationalismus zu überwinden, indem man die Welt mit seinen Sinnen frisch in sich aufnimmt. Diese Epoche mit Leuten wie Bode und Kant zerstört allerdings alte deutsche Differenzierungen zwischen Vernunft
und Verstand
und zwischen Fühlen
und Empfinden
. Dieses kam zuvor von innen, jenes von außen.
Die abwertende Bedeutung von sentimental
ist eine spätere Entwicklung vor allem im Deutschen.
In folgendem Text sieht man die Zerstörung der alten Bedeutung von Empfindsamkeit
:
Nachdem Eliza Draper zu ihrem Gatten nach Bombay abgereist war, begann Sterne
A Sentimental Journey Through France and Italyund erlitt bald einen — letzten — Zusammenbruch. Der geistvolle, scharf beobachtende, tief empfindende Reisende, hinter dessen leicht hingeworfenen Liebesabenteuern man kaum einen Geistlichen vermutet, ist eins der frischesten und unvergänglichsten Charakterbilder des 18. Jahrhunderts. Während Sentimental Journey in England überwiegend als witzige Moralkomödie aufgenommen wurde, wurde in vielen Übersetzungen, die es erlebte, die sentimentale Seite betont. So wurde Sterne in den folgenden Jahrzehnten als „Hohepriester des Gefühlskultes“ missverstanden.
Wer empfindet, findet in sich. Das letzte, was er dabei tut, ist, die Welt scharf zu beobachten. Der scharf beobachtende, empfindende Reisende
müßte eigentlich ein scharf beobachtender, sensibler Reisender
sein.
Sinn machen
bei Lessing
Seit der Veröffentlichung des Tutorials bekommen wir hin und wieder E‑Mails mit der Frage, ob wir die Belege für Sinn machen
bei Lessing kennen würden, da wir ja im Video behaupten, Sinn machen
sei im Deutschen bis vor kurzem unerhört gewesen. Diese Belege glauben Anatol Stefanowitsch und einer seiner Leser gefunden zu haben.
Die Stellen bei Lessing waren uns bei der Entstehung des Tutorials bekannt, aber als Belege für Sinn machen
kommen sie bei seriöser Prüfung der Texte nicht in Frage. Sie fanden deshalb auch im Tutorial keine Erwähnung.
Selbst wenn es sich um Belege handelte, würden sie nicht gelten, weil in der historischen Sprachwissenschaft hapax legomena
(einmalige Belege) nur unter ganz gewissen Umständen zulässig sind. Von diesen Umständen ist hier keiner gegeben. Im Gegenteil, die Fundstellen entsprechen nicht einmal formal der Wendung Sinn machen
; sie lauten nämlich:
- keinen rechten Sinn machen;
- einen sehr schönen Sinn machen;
- was einen Sinn macht.
Es geht aber um die Lehnübersetzung als false friend:
This makes sense to me
das leuchtet mir ein
→ das macht Sinn
. Die Stellen bei Lessing sind formal und inhaltlich von ganz anderer Natur: das macht einen (bestimmten) Sinn oder nicht den rechten
.
Uns sind drei Stellen bekannt. Darin geht es um die Frage, wie man Stellen aus antiken Texten so ins Deutsche übersetzt wird, daß es den Sinn des Originals am besten trifft. Einen Sinn machen
wird hier ausschließlich in der Bedeutung diese und jene Übersetzung erzeugt (d.h. macht) einen guten/
. Der Sinn ist hier ganz und gar die sinnliche Wahrnehmung des Lesers, und zwar eine ganz bestimmte, nämlich die, die der antike Autor beabsichtigt hat. Das hat aber nichts mit der heutigen Wendung das macht (keinen) Sinn
zu tun. Zudem gebraucht Lessing es nicht als lexikalisierte Floskel.
Hier die einzelnen Stellen im Detail:
Nun ist es wahr, daß dieses eigentlich keinen rechten Sinn macht; aber es erschöpft doch auch den Sinn des Aristoteles hier nicht.
Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, Neunzigstes Stück. 1768.
Gemeint ist: Die Übersetzung erzeugt nicht die Bedeutung, die Aristoteles gemeint hat, und sie erzeugt auch nicht das gewünschte oder überhaupt ein Bild beim Lesen.
Weiter zur zweiten Stelle:
Warum soll denn
parcushier nicht heißen, was es fast immer heißt? Macht nichtkarger Verehrer der Göttereinen sehr schönen Sinn, wenn man überlegt, daß ein Heide in Erwehlung [sic] schlechter Opfer und in ihrer Seltenheit eine sehr unheilige Kargheit verrathen konnte?Gotthold Ephraim Lessing: Rettungen des Horaz. 1754.
Lateinisch parcus
bedeutet karg, spartanisch, spärlich
. Lessing findet, daß die Übersetzung von parcus
durch karg
die Bedeutung sehr schön trifft: Dem Leser kommt genau das in den Sinn, was das Original sagen will.
Es hilft Ihnen nichts, wenn Sie zu Ihrer Entschuldigung auch schon
ventos aequante sagittaaus der Äneis anführen wollten. Ein Übersetzer muß sehen, was einen Sinn macht.Gotthold Ephraim Lessing: Literaturbriefe, 77. Brief.
Das hat ja durchaus Ähnlichkeit mit der heutigen Wendung. Wenn man automatisch in Google Books sucht und sich nicht um den Zusammenhang schert, geschweige denn erst einmal untersucht, wie Lessing Sinn
grundsätzlich gebraucht. Pikanterweise geht es in diesem Text genau um dieses unseriöses Vorgehen.
Lessing hält in diesem Brief dem Dichter und Übersetzer Johann Jakob Dusch vor, beim Übersetzen von Vergils Georgica, einer Schrift über den Landbau, einige Passage nicht so übersetzt zu haben, wie sie von Vergil gemeint waren. Duschens Übersetzung führt beim Lesen nämlich zu einem widersprüchlichen Bild. Wenn Lessing anmahnt, der Übersetzer müsse sehen, was einen Sinn machte, dann meint er damit, daß falsch übersetzte Details dazu führten, daß sich beim Leser kein sinnliches Bild ergebe, etwa: Der Kirchturm war so niedrig, daß er in den Himmel ragte.
Das Bild ist ein Widerspruch, beim Leser ergibt sich kein Sinn, also ein Bild im Kopf.
Wer hier die schon formal nicht mit der heutigen Wendung übereinstimmenden Stellen bei Lessing als Frühbelege anführt, hat nicht alle Tassen im Schrank. Das ist so hirnverbrannt wie zu behaupten, Hitler hätte das iPad erfunden, weil er 1939 einmal das Wort Tablett
verwendet hat.
Nachdem make sense
im 20. Jahrhundert als false friend lehnübersetzt wurde, wird es im Deutschen vor allem in der Bedeutung zwecklos
verwendet:
- Es macht keinen Sinn, bei diesem Wetter rauszugehen.
- Ein Virenscanner macht bei Linux keinen Sinn.
Auf gut deutsch spricht man hier von Unsinn oder Quatsch: Ist doch Quatsch, bei diesem Wetter rauszugehen.
Das gilt auch für Beispiele wie dieses:
- Was du da erzählst, macht keinen Sinn.
Das Englische versteht darunter durchaus: In dem, was du erzählst, kann ich nichts Klares erkennen. Es leuchtet mir nicht ein.
Jedenfalls ursprünglich. Aber das ist für das Deutsche ausgeschlossen. Hier bedeutet es schlicht: Was du das erzählst, ist Quatsch.
Das macht keinen Sinn
ist im Deutschen von Anfang an komplett lexikalisiert.