Schrottige Topikalisierung mit Doppelpunkt
Journalisten: Spinnen sie? Und: Wie man Konjunktionen mit Doppelpunkt topikalisiert. Weil: Dumme Menschen andere gern für dumm halten. Wie: Bei dem Witz mit dem Geisterfahrer.
Ein beliebtes Stilmittel unter Onlineredakteuren ist die Topikalisierung. Dabei wird ein beliebiges Wort aus einem Satz herausgenommen und mit Doppelpunkt davor gestellt.
Beispiel gefällig?
Berlin, Bundespressekonferenz. Die obersten Piraten treten an, um den Deutschen ihre Sicht auf das Jahr 2012 zu erklären. Die Aufmerksamkeit ist etwas zurückgegangen, seit die Partei mit einem überraschend guten Ergebnis in das Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen ist. Dennoch: Nach Umfragen würde sie derzeit sicher in den Bundestag einziehen. Und auch in Schleswig-
Süddeutsche.deHolstein, wo demnächst gewählt wird, stehen die Chancen nicht schlecht.
Welcher Sinn darin liegen soll, wird Leuten mit Geschmack wohl ewig ein Rätsel haben. Vielleicht hält der Verfasser seine Leser für Idioten. Aber Freude macht es:
- Umfragen: Sie würde derzeit sicher in den Bundestag einziehen.
- Derzeit: Nach Umfragen würde sie sicher in den Bundestag einziehen.
- Sicherlich: Nach Umfragen würde sie derzeit in den Bundestag einziehen.
- Bundestag: Nach Umfragen würde sie derzeit einziehen.
- Einziehen: Nach Umfragen würde sie derzeit sicher in den Bundestag.
Zudem: Man kann gar nicht mehr aufhören, wenn man einmal angefangen hat!
Hier ein noch absurderes Beispiel, das natürlich von Spiegel Online stammt:
Christian Wulff möchte ein Bürgerpräsident sein. Er versucht, das Wahlvolk für sich zu gewinnen. Weil die Politik auf Distanz zu ihm geht. Im Schloss Bellevue reichte er beim Neujahrsempfang verdienten Bürgern die Hand, immer im Visier der Kameras suchte der angeschlagene Präsident Haltung zu bewahren. Doch gleichzeitig wächst der Druck: Verbände wie etwa der Deutsche Journalistenverband (DJV) boykottierten die Veranstaltung. Und: Nun beginnen auch die eigenen Leute vernehmlich zu nörgeln. In der Union sind viele schlicht genervt - von den schlechten Schlagzeilen, von der ewigen Affäre, von dem miesen Krisenmanagement ihre Präsidenten. Der Frust wächst, man könnte sagen: die, die Wulff einst ins Amt hievten, haben genug.
Spiegel Online (Annett Meiritz, Severin Weiland und Philipp Wittrock)
Last but not least: Ist in Bellevue eigentlich jeden Tag Neujahrsempfang? Oder: Kommt einem das nur so vor?
Noch ein weiteres Beispiel:
Dabei sind nicht das veraltete Ladenkonzept und das schlechte Image die eigentliche Ursachen des Niedergangs [von Schlecker], sondern nur Symptome eines viel simpleren Problems: schlechtes Management. Gründer und Firmenpatriarch Anton Schlecker hat sein simples Konzept einfach jahrzehntelang weiter ausgebreitet, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass sich die Bedürfnisse der Kunden längst verändert hatten.
Hinzu kommt: Das Schlecker-Konzept war von Anfang an betriebswirtschaftlich höchst labil: Kleine Filialen haben natürlicherweise kleinere Gewinnmargen und lohnen sich nur bei Lohnkosten an der Untergrenze des Legalen. Als Schlecker nach dem Skandal um Dumpinglöhne — ehrenwerterweise — an dieser Lohnschraube drehte und seinen Mitarbeitern bessere Arbeitsbedingungen genehmigte, schlug sich das in den sowieso schon sehr eng berechneten betriebswirtschaftlichen Kalkulationen nieder.
Lenz Jacobsen. Die Zeit, 20.1.2012. Externer Link zu Zeit.de
Der Doppelpunkt im ersten Absatz ist gelungen. Er erzeugt eine Zäsur, hinter der die Sache auf den Punkt gebracht wird. Hinter dem Doppelpunkt folgt, worin das besteht, was vor dem Doppelpunkt steht.
Der Doppelpunkt am Beginn des zweiten Absatzes tut dies nicht und ist daher sinnlos und kontraikonisch. Was folgt, ist sprachlich und erzählerisch nicht der Inhalt von hinzu kommt
. Und auch sachlich nicht. Das betriebswirtschaftliche Konzept soll zum schlechten Management hinzukommen? Worin bestand dann das Management, wenn Betriebswirtschaft etwas anderes ist?
Hinzu kommt: Es kommt noch ein zweiter Doppelpunkt hinzu. Eine irrwitzige Doppelpunktkaskade. Der Text kann gerettet werden, indem man hinzu kommt
ersatzlos streicht.
Ein abendländischer Text läuft immer von links nach rechts. Was links steht, ist vorher, was rechts steht, ist nachher. Das Folgende baut immer auf dem Vorausgegangenen auf. Dieses Prinzip bedarf keiner zusätzlichen Markierung durch einen Doppelpunkt. Das gilt auch, wenn das Rechte die Erläuterung des Linken ist. Es reicht ein Punkt oder ein Komma.
Bevor man seine Leser für Idioten hält, sollte man sich fragen, wie es der Menschheit in all den Jahrtausenden des Schreibens und Lesens nur gelungen ist, Texte ohne solche Verdeutlichungen zu verstehen. Die Antwort lautet immer: Ich selbst muß der Idiot sein.