Chemie, Kemi oder Schemie?
Im Norden heißt Schemie, im Süden Kemi. Und dann gibt es noch eine Gegend, wo man Chemie wie in ›ich‹ sagt. Wer glaubt, nur die eigene Aussprache wäre richtig, liegt falsch. Alle Varianten sind gleichberechtigte Standards, hinter denen jeweils Millionen von Muttersprachlern stehen.
Im Internet findet man allerlei darüber, das meiste stammt von Menschen aus Mittel- und Norddeutschland und beschäftigt sich mit der sonderlichen k‑Aussprache in südlichen Gefilden.
Offiziell wird das Wort "Chemie" ja wie "Schemie" gesprochen, es gibt aber auch noch die alternative Aussprache "Kemie", die laut Wikipeda im Bairischen, Badischen, Österreichischen und Schweizerdeutsch vorherrscht.
Doch warum ist das so? Ich meine, es geht hier ja nicht nur einfach um Dialekte, denn selbst beim Versuch Hochdeutsch zu reden, schaffen es viele nicht das Wort "Chemie" korrekt auszusprechen - obwohl sie sonst des Hochdeutschen durchaus mächtig sind. Ist es ein Indiz für die sprachliche Rückständigkeit des Süddeutschen-Sprachraums, dass man sich dort weigert, Wörter korrekt auszusprechen?
Kann man vielleicht sogar soweit gehen, dass die falsche Aussprache des Wortes "Chemie" indiziert, dass die Person einer bildugsfernen Schicht entstammt? Denn auch im Süddeutschen-Sprachraum lernen Kinder die z.B. in einem Akademiker-Haushalt groß werden, dass es Schemie und nicht Kemie heißen muss. Die, die es nicht wissen, kommen dann aus einer bildungsfernen Umgebung.
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Fangen wir mit dem Wesentlichen an: Welche Aussprache Ihnen auch immer eigen ist, Sie liegen damit richtig. Denn für die drei Varianten /?/, /ç/ und /k/ finden sich jeweils so viele Sprecher, daß man von keiner Standardform durch Mehrheit sprechen darf.
Damit könnte man es bewenden lassen. Geht man bei der Suche nach einer Mehrheit über das Deutsche hinaus, sind die Süddeutschen keineswegs in der Minderheit, sondern die überwältigende Mehrheit: Im Englischen sagt man /kemistri/ und im Friesischen(!) /kemii/. Schweden sagen wie die Norddeutschen /çämi/, schreiben es aber kemi
. Sie sprechen nämlich jedes k
im Anlaut /ç/ aus, wenn ihm ein vorderer Vokal folgt. Wenn sie einkaufen, sagen sie /çöpa/ und nicht /köpa/. Ursprünglich wurde dort also /k/ gesprochen. Ob das bei den Nordfriesen auch so ist, weiß ich nicht.
Auch wenn man einen Standard aus dem Lautsystem des Deutschen ableiten wollte, landete man bei /k/. Denn selbst Hannoveraner sprechen Christus, Chronik
und Chor
vorne mit /k/ aus.
Der Digraph ch
kommt in deutschen Erbwörtern nur im In- und Auslaut vor. Wir sprechen ihn nach vorderen Vokalen /ç/ aus wie ich, Löcher, tüchtig, Teich, mechanisch
, nach hinteren dagegen /x/ wie lachen, rauchen, fluchen, Tochter
. Es handelt sich um ein Allophon, ein phonologisches Wechselbalg, dessen Aussprache davon abhängt, welcher Vokal ihm vorausgeht.
Digraph Ein einziger Laut wird durch zwei Buchstaben dargestellt.
Welchen von beiden Lauten wählt man nun am Wortanfang? Standardmäßig ist es /k/, wie man in Bayern spricht. Die nördlichen Varianten /?/ wie in Schule
und /ç/ wie in ich
sind regionale Palatalisierungen.
Die hochdeutsche Lautverschiebung hätte bei Erbwörtern im Frühmittelalter aus dem Verschlußlaut /k/ den Reibelaut /x/ machen müssen, wenn sie im Anlaut so konsequent durchgeführt worden wäre wie im Inlaut: wachen
vs. englisch wake
und isländisch vaka
. Das geschah aber nur im südlichsten Oberdeutschen, das heißt in Tirol, Vorarlberg und der Schweiz. Dort sagt man Kchorn
, wo alle anderen Deutschsprecher Korn
sagen.
Es gibt in Erbwörtern also kein /ç/ oder /x/ im Anlaut. Deshalb wurde im früheren Neuhochdeutschen gerne mal chraft
geschrieben, aber man sprach es Kraft
. Hier wurde einfach modisch c
statt k
geschrieben. Weil /k/ im Anlaut immer behaucht ist, hat man noch ein h
dahintergesetzt.
Die K-Sprecher im Süden sprechen also ziemlich systematisch. Wenn der Bayer was macht, dann hat das bekanntlich immer Hand und Fuß!
/ç/ IPA-Zeichen für stimmlosen, palatalen Reibelaut wie in ich
/x/ IPA-Zeichen für stimmlosen, velaren Reibelaut wie in ach
Spaß beiseite. Die Bayern und Sachsen haben das Hochdeutsche schließlich erfunden. Hochdeutsch ist ihr Dialekt, der durch historische Umstände in der frühen Neuzeit zur Standardsprache aller Deutschen wurde. So nimmt es auch nicht wunder, daß sie dem Standard entsprechen. Das Hoch-
in Hochdeutsch
bezieht sich schließlich nicht auf die Höhe der Bildung, sondern auf die Höhe über dem Meeresspiegel. Deswegen spricht man im Norden auch Niederdeutsch.
Zum Abschluß noch ein Wort zur Bildung. Auch im klassischen Griechischen spricht man den Buchstaben Chi als behauchtes /k/, und Chemie
ist ein gräzisierter Arabismus. Das gilt allerdings für alle Chis, dennoch sagen wir /psüçe/ und nicht /psüke/, und ebenso machen es die Pleite- und Folkloregriechen heutigen Griechen. Und bei China
wäre es wieder anders. Da müßte man ergründen, wie man Qin
im Chinesischen zu Zeiten der Seidenstraße ausgesprochen hat. Da wäre /tçina/ wohl am gebildetsten. Zum Glück spielt Bildung überhaupt keine Rolle, sonst würde die Sache im Schaos enden.
Das Schöne an der Vielfalt ist ihr Mangel an Einfältigkeit. Wer in dieser Frage nach einer Norm sucht, sollte bedenken, daß diese Vielfalt nicht nur im Deutschen zu finden ist, sondern in sehr, sehr vielen Sprachen. Daß innerhalb einer Sprache ein K-Anlaut von einigen Sprechern palatalisiert wird, von anderen dagegen nicht, findet man überall: im Schwedischen sagen die einen /?/, die anderen /ç/, das /k-/ im Lateinischen certus
ist im Italienischen zu /t?/ certo
geworden. Nicht nur das! Die gesamte indogermanische Sprachfamilie hat sich in dieser Frage entzweit, in die Kentumsprachen und die Satemsprachen.