Enzephalitis, Nekrophilie und Nekrolog

Viele Artikel beginnen bei Wikipedia mit einer Angabe zur Herkunft des Begriffs. Sie sind nicht nur in Einzelfällen falsch, sondern in Gänze.

Angaben zur Wortherkunft in Wikipediaeinträgen

Wir möchten auf ein Pro­blem bei Wiki­pedia hin­wei­sen: Viele Ein­träge be­gin­nen mit einer An­gabe, woher der Be­griff, der dem Ein­trag sei­nen Namen gibt (Lemma), ei­gent­lich stammt. Die Ein­träge wer­den meist von Au­to­ren ver­faßt, die zwar in der Sache kundig sind, nicht jedoch in Ety­molo­gie. Was sie lei­der nicht davon ab­hält, ver­bind­liche An­gaben zu Wort­her­kunft zu ma­chen — mit grie­chi­schen Voka­beln in pro­perer grie­chi­scher Schrift, die den Ein­druck machen, bis aufs letz­te Iota kor­rekt zu sein. Dabei gibt es das angegebene Wort im Grie­chi­schen gar nicht. Wir möch­ten Euch das Pro­blem an drei Bei­spie­len zei­gen.

Enzephalitis

Der Artikel über die Enzephalitis beginnt bei Wikipedia so:

Eine Enzephalitis (altgriech. ἐνκεφαλίτις enkephalitis — „die Gehirnentzündung“) ist eine Entzündung des Gehirns.

Wikipedia: Enzephalitis (25.2.2012)Externer Link zum Artikel bei Wikipedia

Der Leser kann daraus nur zu einem Schluß kommen: Es gibt im Alt­grie­chi­schen ein Wort ἐνκεφαλίτις en­kepha­litis, das Ge­hirn­ent­zün­dung be­deu­tet. Ge­nau das ist aber nicht der Fall. Die En­ze­phali­tis ist ein neu­zeit­liches Kunst­wort aus grie­chi­schen Ele­men­ten: Zunächst gibt es im Alt­grie­chi­schen ἡ κεφαλή he kepʰalē das Haupt, der Kopf und dar­aus ab­gelei­tet ὁ ἐγκέφᾰλος ho enkepʰalos was im Kopf ist → das Gehirn.

Das zweite Element ist -itis, mit dem in der Medizin die Namen von Ent­zün­dungs­krank­hei­ten gebildet werden. Im Alt­grie­chi­schen bil­dete man mit diesem Ab­leitungs­suffix ∙itēs (Mas­kuli­num) und -itis (Fe­mi­ni­num) all­gemein­sprach­lich Ad­jek­tive zu Orts­namen, die die Zu­gehörig­keit zu diesem Ort be­zeich­neten.

Das waren in die Regel die Namen von Poleis (so der Plu­ral zu Polis) oder auch die Polis als solche: Aus polis Stadt, Ge­mein­wesen, Staat wird politēs der zur Polis g­hören­de → Bürger. Die weib­liche Form zu -itēs ist ∙itis. Spricht man von einer Krank­heit, möchte man meist spe­zifi­zie­ren, wel­che Stelle im Kör­per die Krank­heit be­fal­len hat. Sind es die Ge­lenke, bil­det man vom Sub­stan­tiv für Gelenk eine Ab­lei­tung mit ∙itis und setzt sie als Ad­jektiv­attri­but zum grie­chi­schen Wort für Krank­heit. Weil das weib­lich ist, steht auch das Ad­jek­tiv mit der weib­lichen Endung -itis:

τὸ ἄρθρον tò artʰron das Gelenk

artʰritēs, itis die Gelenke betreffend (gelenkisch)

artʰritis nosos Krank­heit der Ge­lenke

Dieses Beispiel soll von dem griechischen Arzt Hippokrates stammen und das Be­nen­nungs­schema für alle späteren Ent­zün­dungs­krank­hei­ten vor­geben. Frei­lich findet man in den vielen Ab­schrei­bern nir­gen­dwo einen Hinweis, an welcher Stelle in den vielen Schriften von Hippo­kra­tes dieser Beleg denn ge­fun­den werden kann. Diese Suche war mir zu anstrengend, dafür habe ich Hippo­krates’ Schrift über Schä­del­ver­let­zun­gen und dann noch andere in Aus­zügen gelesen, ohne auch nur einmal eine ἐνκεφαλίτις enkephalitis zu finden.

Ich halte sie für eine Geburt der Neuzeit, genau wie die Ad­jektivi­tis und die Apo­stro­phitis. Und wenn so ein Be­griff wie bei der Ar­thri­tis tat­säch­lich antik ist, dann muß Wiki­pedia bei seinem Stan­dard, An­gaben mit Quel­len zu be­legen, auch hier die Stelle angeben.

Man sieht dem Wikizitat oben an, daß die Wortherkunft von einem Verfasser stammt, der des Grie­chi­schen nicht mäch­tig ist, weil der Laut /ng/ im Griechischen nie νκ, son­dern γκ (gk) ge­schrie­ben wird (eine Son­der­lich­keit des Grie­chi­schen).

  • Falsch: ἐνκεφαλίτις <enk∙>
  • Richtig: ἐγκεφαλίτις <egk∙> /enk-/

Für sich ge­nom­men ist dieses Bei­spiel ein läß­licher Feh­ler, wenn dieser Feh­ler bei Wiki­pedia nicht Met­hode wäre und mit ei­nem an­deren ein­her­ginge: der Pseudo­akkura­tesse, einer Zivi­lisa­tions­krank­heit des 21. Jahr­hun­derts, bei der Ge­nauig­keit immer da fehlt, wo sie rele­vant wäre, und statt­dessen an un­wich­ti­ger Stel­le auf Ge­nauig­keit Wert ge­legt wird, wo sie sinn­los, rei­ne Ma­nier und meist auch noch falsch ist.

Nekrophilie

Unser nächstes Beispiel ist die Nekrophilie. Hier treibt Wikipedia das gleiche Spiel:

Der Begriff Nekrophilie (griechisch νεκροφιλία, von νεκρός, ne­krós „Toter“, „Leiche“ und φιλία, philía, „Zu­nei­gung“) stammt aus der Psycho­logie und der Se­xual­for­schung. Er be­zeich­net eine Sexual­präfe­renz, die auf Lei­chen ge­richtet ist.

Wikipedia: Nekrophilie (25.2.2012)Externer Link zum Artikel bei Wikipedia

Der Begriff soll also aus der Psycho­logie und der Sexual­for­schung stam­men, was nicht stimmt, wie wir unten sehen wer­den. Zu­gleich soll er aber auch aus dem antiken Grie­chen­land stammen, was na­tür­lich auch nicht stimmt. Die Angabe zur Wort­her­kunft steht in grie­chi­scher Schrift ohne Um­schrift. Sie macht einen glau­ben, der Be­griff stamm­te von ei­nem grie­chi­schen Wort νεκροφιλία nekropʰilía her.

Im klassischen Griechischen ist es allerdings völlig unbekannt. Ein Wort νεκροφιλία nekropʰilía existiert nicht. Bestenfalls im Neu­griechi­schenExterner Link zum Eintrag im Grie­chisch­wörter­buch von PONS, das allerdings für solche wis­sen­schaft­lichen Aus­drücke ir­rele­vant ist. Und die­ses neu­grie­chi­sche νεκροφιλία nekrofilía ist eine Ent­leh­nung aus dem Deut­schen und nicht um­gekehrt.

Denn er­fun­den hat den Begriff der Nekro­philie der deut­sche Neuro­loge, wie man Psy­cho­onkel jeder Art im 19. Jahr­hun­dert noch all­gemein nannte, Ri­chard von Krafft-Ebing. Er erschuf den Aus­druck 1886 in sei­nem auf deutschTutorial: auf Deutsch oder auf deutsch? ge­schrie­benen Werk Psycho­pathia Sexu­alis.

Psychopathia Sexualis
Richard von Krafft-Ebing: Psychopathia Sexualis: eine Klinisch-Forensische Studie.
Stuttgart 1886.

Die Nekrophilie ist also ein deutsches Wort und kein grie­chi­sches, weil es zum ersten­mal in einem deut­schen Satz ver­wen­det wurde.

Ob Krafft-Ebing es aus deut­schen Erb­wör­tern zu­sammen­setzt Lei­chen­schän­dung, aus grie­chi­schen Nekrophilie oder Phan­tasie­lauten M☠mmpf, spielt da­bei keine Rolle. Wenn er grie­chi­sche Ele­men­te be­nutzt, wird aus der Wort­bil­dung noch lange kein Grie­chisch, so wie auch der Be­griff Show­master ein deut­sches Wort ist, das im Eng­lischen nicht exi­stiert.

Die Fußnote hinter Krafft-Ebings Überschrift verweist auf das Hand­buch der ge­richt­lichen Medicin, 1882 her­aus­gege­ben von Josef Maschka. Dem ist der Aus­druck offen­kundig noch un­bekannt.

Handbuch der gerichtlichen Medicin
Josef Maschka (Hrsg.): Handbuch der gerichtlichen Medicin.
Dritter Band. Tübingen 1882. Seite 191.

Im Englischen entsteht necrophilia erst 1887 durch den ame­rika­nischen Neuro­logen Charles Gilbert Chad­dockEintrag über Chaddock bei der englischen Wikipedia, als er Krafft-Ebings Psy­cho­pathia Sexu­alis ins Eng­lische über­setzt. Er führt bei die­ser Arbeit auch das deut­sche Wort homo­sexu­ell ins Eng­lische ein, das eben­falls aus dem Kopf von Krafft-Ebing stammt und dort noch eine Sexualstörung ist.

Hier beschränkt sich der Irrtum nicht auf die Ety­molo­gie selbst, denn sie ver­hüllt ja zu­dem auch die An­fänge der Er­for­schung der Krank­heit. Der Leser glaubt, die Nekro­philie wäre in der Antike so weit ver­brei­tet ge­wesen, daß es damals schon einen Namen ge­habt hätte.

Nekrolog

Nehmen wir noch ein weiteres, nahes Beispiel: den Nekrolog.

Der Nekrolog [nekroˈloːk] (altgr. nekrós „der Tote“ und lógos „das Wort, die Rede“) oder Nach­ruf (Philipp von Zesen) ist eine Wür­di­gung des Le­bens­werks eines kürz­lich Ver­stor­benen.

Wikipedia: Nekrolog (25.2.2012)

Hier wird immerhin kein griechisches Wort nekrologos erfunden, was aber augenscheinlich daran liegt, daß der Ver­fas­ser dieses Arti­kels die grie­chi­sche Schrift nicht beherrscht. Sonst läßt sich Wiki­pedia die Ge­legen­heit nicht ent­gehen, mit grie­chi­schen Buch­sta­ben zu prun­ken.

Dennoch wird der Eindruck erweckt, Nekrolog käme aus dem Grie­chi­schen, dabei ist die Vo­ka­bel bei den al­ten Grie­chen epi­táphi­os (ló­gos) Be­gräbnis­rede oder viel­leicht noch drēnos Totenklage. In der be­rühm­ten Grab­rede von Peri­kles bei Thu­kydi­des taucht es des­halb nicht auf und auch nicht in des­sen üb­lichen la­tei­ni­schen Titel: Periclis oratio funebris.

Der Ausdruck ist nämlich ein mittellateinischer Neologismus und erst Ende des 19. Jahr­hun­derts aus fran­zö­sisch nécro­logue ins Deut­sche ge­kom­men. Des­halb ist es auch im Wör­ter­buch von Grimm und allen Wör­ter­büchern vor 1892 nicht ent­halten.

Wenn Sie noch einmal einen Blick auf das Zitat von Wiki­pedia wer­fen, wird Ih­nen da viel­leicht ein wei­te­res Pro­blem auf­fal­len. Philipp von Zesen hat nämlich von 1619 bis 1689 gelebt. Das wirft die Frage auf, wie er ein Wort ein­deut­schen konnte, das erst zwei­hun­dert Jahre nach sei­nem Tod ent­standen ist.

Wikipedia führt diese sensationelle Eindeut­schung im Ein­trag über von Ze­sen sogar als einen seiner größten Erfolge auf:

Erfolgreiche Verdeutschungen

Zesen erfand für zahlreiche Fremdwörter Verdeutschungen, die Eingang in die deutsche Sprache gefunden haben, wie Ab­lei­tung (für das Fremd­wort Deri­vation), Ab­stand (Distanz), An­gel­punkt (Pol), An­schrift (Adresse), Au­gen­blick (Mo­ment), Aus­flug (Ex­kur­sion), Bei­fügung (Ap­posi­tion), Bei­strich (Komma), Be­spre­chung (Re­zen­sion), […] Letz­ter Wille (Testa­ment), Mund­art (Dia­lekt), Nach­ruf (Ne­kro­log), Recht­schrei­bung (Ortho­gra­phie), Sinn­gedicht (Epi­gramm), Sterb­lich­keit (Morta­lität), Ver­fas­ser (Autor), Voll­macht (Pleni­potenz), Wahlspruch (Devise), Weltall (Universum).

Wikipedia: Philipp von Zesen (25.2.2012)Externer Link zum Artikel bei Wikipedia

Tatsächlich hat von Zesen den Nachruf wohl er­schaf­fen, denn im Wör­ter­buch von GrimmEintrag zu ›Nachruf‹ bei Grimm stam­men sämt­liche Belege aus der Zeit nach von Zesen. Es ist je­doch nicht die Ein­deut­schung von Ne­kro­log, son­dern von Echo:

Von Zesen übersetzt Echo mit Nachruf
In: Philipp von Zesen. Anzeiger der fremden Wörter, so hierinnen sich verdeutscht befinden. 1656.

Über Wikipedia hinaus sei davor gewarnt, die obigen Bei­spiele für Ein­deut­schun­gen für Er­folge von Zesens zu halten. Das ist näm­lich alles an­dere als sicher. Wenn ich hier äußerte, daß der nächste Bun­des­kanz­ler Stein­brück oder Mer­kel hei­ßen wird, dann kann ich es in meinem Le­bens­lauf nicht unter per­sön­lichen Er­folgen an­füh­ren, wenn einer der bei­den wirk­lich Kanz­ler werden sollte. In letzter Zeit ist von Zesen wieder sehr präsent, aber sein Ein­fluß auf die deut­sche Spra­che wird er­heblich über­schätzt.

Fazit

Mir ist natürlich klar, daß es nicht einfach ist, etymologisch korrekt zu arbeiten, wenn man von einem an­de­ren Fach ist, aber die fol­gen­de ein­fache Lö­sung wür­de den Au­to­ren und ih­ren Le­sern das Le­ben er­leich­tern:

  • Enzephalitis, neuzeitlich gebildet aus grie­chisch en­kepha­los Ge­hirn und dem Suf­fix ∙itis für Ent­zün­dungs­krank­heiten, be­zeich­net eine Ge­hirn­ent­zün­dung.
  • Nekrophilie, neuzeitlich gebildet aus grie­chisch nekros Leiche und dem Suf­fix ∙philie für Nei­gun­gen, …
  • Nekrolog, mittellateinische Bildung aus grie­chisch nekros Leiche und dem Suf­fix ∙log für eine Form der Rede, be­zeich­net eine Ge­denk­rede für einen Ver­storbe­nen.

Auf die griechischen Buchstaben sollte Wikipedia an dieser Stelle kat­e­go­risch ver­zich­ten. Und schon hät­te die Sache Hand und Fuß.