A life, to live, alive

Warum schreibt man das englische Substantiv ›life‹, das Verb ›to live‹ und das Adverb ›(a)live‹ verschieden und spricht sie verschieden aus?

life und live

Die drei englischen Vokabeln life, to live und live (on air) oder alive sind in Schrei­bung, Aus­spra­che und Be­deutung ver­wir­rend.

Unterschiede in Aussprache und Schreibung bei englisch 'life, to live, live'. to l i v e /lıv/ l i v e /laıv/ l i f e /laıf/

Wir entwirren sie, indem wir uns ihre Ent­ste­hung an­sehen.

Altenglisch Mittelenglisch Neuenglisch libban/lifƺe lĭven to live /lıv/ līf līf + e life /laıf/ on līf alīf, alīve alive /ǝlaıv/ live /laıv/ ĭ=ı ī‣aı ī‣aı

Das Verbum to live

Der Ursprung der Trias life/to live/live liegt im Verbum to live, das aus dem alt­eng­lischen Ver­bum lib­b(i)an (west­säch­sisch) und lifƺe (ang­lisch) Das Zei­chen ƺ (YoghExterner Link zum Artikel bei Wikipedia.) steht für /(g)j/. West­säch­sisch lib­b(i)an ist der im Alt­engli­schen do­minan­te Dia­lekt süd­öst­lich von Lon­don, der aus dem Nie­der­deut­schen (alt­nie­der­deutsch lib­bian → mit­tel- und neu­nie­der­deutsch=platt­dütsch le­ven) kommt, Ang­lisch der nörd­liche Dia­lekt, der dem Frie­si­schen nahe­steht. Tat­säch­lich lautet das Ver­bum im Frie­si­schen heute noch libje (von alt­frie­sisch libba) leben mit kur­zem Vokal ĭ ent­stan­den ist.

Kurzes ĭ bleibt über die ge­samte Ge­schich­te der eng­lischen Spra­che er­hal­ten: lib­b(i)an/lifƺe → mit­tel­eng­lisch lĭven /lıvǝn/ → neu­eng­lisch to live /lıv/.

Der Vokal /ı/ ist ein kur­zes zen­tra­les i wie in deutsch Fisch, Mitte. Be­ach­ten Sie, daß der w-Laut am Wort­ende stimm­haft ist, da im Deut­schen Kon­sonan­ten am Wort­ende ih­ren Stimm­ton ver­lie­ren (Aus­laut­ver­här­tungExterner Link zum Artikel Wikipedia: Auslautverhärtung: Rad /rat/:Rades /rades/). Also: /lıv/ und nicht /lıf/.

Das Substantiv life

Das Substantiv life ist die Nominal­ableitung vom Verbum. Es ist aus alt­eng­lisch līf (star­kes Neu­trum und Mas­kuli­num) Leben (einst auch: Leib, Kör­per) ent­stan­den (mit­tel­englisch un­ver­än­dert līf), das ety­molo­gisch direkt dem deut­schen Leib (aus līb) ent­spricht. Der Vo­kal ist hier zu lan­gem ī gelängt. Wie alt­hoch­deutsch līb kann līf masku­li­num (De­fault­genus bei di­rek­ter No­mina­lisie­rung) oder neu­tral (gram­mati­sche Ab­lei­tung) sein. Das Genus schwankt je nach­dem, ob der Spre­cher in dem Aus­druck die Sache oder den Vor­gang sieht. Sie­he dazu unser Genus-Tu­tori­alTutorial: Genus im Deutschen..

Langes ī wird am Beginn des Frühneuenglischen von der gro­ßen Vokal­ver­schie­bung (eng­lisch: Great Vowel Shift) er­faßt, die dazu ge­führt hat, daß die Aus­spra­che eng­lischer Wör­ter heut­zu­tage so drastisch vom Schrift­bild ab­weicht. Aus lan­gem ī /i:/ wie in deutsch Liebe wird da­bei der Di­phthong /aı/, so daß wir life heute /laıf/ aus­sprechen.

Be­ach­ten Sie am Wort­ende das stimm­lose /f/ wie in für. Also: v stimm­haft, f stimmlos.

Da sich im Übergang vom Mittel- zum Frühneuenglischen (14. bis 16. Jahrhun­dert) auch die drei Ge­schlech­ter auf­lösen, wird der Wort­aus­gang an­gepaßt. Im Mit­tel­eng­lischen (me.) gin­gen weib­liche Sub­stan­tive auf ∙e aus (wie im Deut­schen Gab∙e):

Die Neutra ohne e werden daran an­gepaßt, weil ∙e seine Funk­tion als gram­mati­sches Zei­chen ver­loren hat:

Das ∙e wird aus graphemischen Gründen angehängt und macht den f-Laut davor nicht stimm­haft, wie es bei live der Fall ist, des­sen e älter ist und auch ge­spro­chen wurde.

Die Adverbien live und alive

Das Adverb live wie in live on stage und live on air gehört zum Sub­stan­tiv: Zu life entsteht schon im Alt­eng­lischen die Wen­dung on līf (Prä­posi­tio­nal­phrase) am Leben, le­ben­dig, leib­haf­tig, die sich zum Adverb mit­tel­eng­lisch alīf, alīve wie im heu­tigen alive und gekürzt zu live wei­ter­ent­wickelt.

Weil der Vokal wie beim Substantiv zu früh­neueng­lischer Zeit noch lang war, durch­läuft (a)live die Vokal­ver­schie­bung und wird heute /laıv/ aus­gespro­chen.

Achten Sie darauf, den w-Laut am Ende stimmhaft wie beim Verb und nicht stimmlos wie beim Sub­stan­tiv aus­zu­spre­chen. Hier liegt Grund für Ver­wir­rung: Ob­wohl das Adverb lexi­ka­lisch zum Sub­stan­tiv ge­hört und im Kern mit /aı/ gespro­chen wird, spricht man hin­ten wie beim Verb ein stimm­haftes /v/ und schreibt auch so.

Unterschiede in Aussprache und Schreibung bei englisch 'life, to live, live'. to l i v e /lıv/ l i v e /laıv/ l i f e /laıf/

Setzt man das Sub­stan­tiv in den Plu­ral, geht es auch ihm so:

my life /laıf/our lives /laıvz/

Der w-Laut wird wegen der Plu­ral­endung ∙es stimm­haft. Bei alive hat sich frü­her die Vari­ante mit ∙e durch­ge­setzt, wes­wegen v zu schrei­ben und stimm­haft aus­zuspre­chen ist.

Alive kann als Adverb nur prädikativ gebraucht werden: She is alive, aber falsch: *an alive women. Live ist ein Adverb und kein Ad­jek­tiv, wie an ei­ni­gen Stel­len be­haup­tet wird.

Die Kurzvariante live bedeutet leib­haf­tig; wie man leibt und lebt. Die heute vor­herr­schen­de Ver­wen­dung im Zu­sam­men­hang mit Da­ten­über­tragung ist in den Drei­ßi­gern mit dem Radio ent­stan­den und be­deu­tet leib­haftig vor Ih­nen (gegen­wär­tig) im Stu­dio.

In Ausdrücken wie live stream ist live das Vor­der­glied eines De­ter­mi­na­tiv­kom­posi­tums wie in deutsch Live­stream. Determinativkompositum ist eine Zu­sammen­set­zung mit ein­schrän­ken­der und be­stim­men­der Be­deu­tung: Nicht jede Art von Stream, son­dern nur Live­streams.

Wegen des jun­gen Alters des Aus­drucks fin­den sich im Eng­lischen keine Binde­strichkopp­lungen mehr. Die Binde­strich­schrei­bung war im zwan­zig­sten Jahr­hun­dert im Eng­lischen schon stark ge­schwunden.

Deutsch Leib und Leben

Ihnen ist oben wahr­schein­lich auf­gefal­len, daß den Wörtern altenglisch līf und alt­nor­disch líf (der Akut bezeichnet einen langen Vokal) mit der Be­deu­tung Leben etymologisch das deutsche Leib entspricht.

Leib hat heute die Bedeutung Körper — für Leben gibt es die Voka­bel Leben, die es in dieser Form in den anderen ger­mani­schen Spra­chen nicht gibt. Leben ist ein­fach der Infi­ntiv des Ver­bums. Man ver­wen­dete ihn zwar schon im Mit­tel­alter als nor­males Sub­stan­tiv, doch be­zeich­nete er damals eher das Le­ben in seinem Vor­gang: Mein Leben ≈ meine Art zu Leben, wie ich lebe. Für die heu­tige Be­deu­tung das Leben mit allem Drum und Dran wird es als gän­gi­ge Vo­ka­bel erst seit der Neu­zeit gebraucht. Umgekehrt hat das Eng­lische den kör­per­lichen Be­deutungs­anteil in body aus­ge­glie­dert, so daß in life nur der vi­ta­le und ab­strak­te Aspekt übrig blieb.
Die Ent­ste­hung von Kör­per wird in die­sem Tu­to­ri­al er­klärt, die Ety­molo­gie von body ist un­klar.

Im Mittelalter be­zeich­nete die Vo­ka­bel alt­hoch­deutsch līb und mit­tel­hoch­deutsch līp eine Per­son und seine Iden­ti­tät in ihrer Gesamt­heit, was sowohl den Leib (Kör­per und Geist) als auch das exi­sten­tiel­le Ge­füge darum (Lebens­umstän­de, im Schwe­di­schen livs­pussel Lebens­puzzle ge­nannt) umfaßt:

dar umbe muosen degene vil verliesen den līp

→ Deshalb mußten viele Prachtkerle [Leib und Leben] verlieren.

Nibelungenlied, Strophe 2,4

Hier liegt für uns die Betonung eher auf Leben, im nächsten Bei­spiel da­ge­gen nicht:

Ute zu ihrer Tochter Kriemhild:

du wirst ein schœne wīp, ob dir got noch ge­füe­get eins rehte guo­ten rit­ters līp

→ Du wirst eine schöne Frau, wenn dir Gott [den līp] eines rich­tig tol­len Rit­ters beschert.

Nibelungenlied, Strophe 15,3-4

Man fragt sich, warum der Ritter nicht direkt, sondern der līp eines Ritters ge­nannt wird. Das klingt für uns ver­korkst wie meiner Einer von Bugs Bunny. Der mit­tel­alter­liche līp be­zeich­net die ge­samte Per­son, seine Per­sönlich­keit, seinen Kör­per und seine Exi­stenz, die — wenn man kein Recke (Ein­zel­gän­ger) war — stets ge­sell­schaft­lich be­drängt und ver­floch­ten wie die eines Face­book­users war. Oft wird der Aus­druck tech­nisch ge­braucht, wenn der Fokus auf eine Per­son ge­rich­tet wer­den soll. Und er reimt sich prima auf wīp.

Etymologie

Der līp und altenglisch līf sind Nominalisierun­gen zum Verbum, das im Ger­mani­schen ganz am An­fang der Wort­gruppe steht.

Urindogermanisch leip∙

Es ist eine Ableitung zur ur­indo­germani­schenVideo-Tutorial: Indogermanisch und nicht indoeuropäisch Wur­zel leip∙. Die bal­tischen, sla­wi­schen und in­dischen Ab­kömm­linge dieser Wur­zel haben alle die Be­deu­tung kle­ben blei­ben, schmie­ren, ganz am an­deren Ende des indo­germani­schen Sprach­kontinu­ums auf heute chine­sischem Terri­torium haben die Ab­kömm­linge im aus­gestor­benen To­chari­schenExterner Link zum Artikel über Tocharisch auf Wikipedia die Be­deu­tung übrig blei­ben. In an­deren Sprach­zweigen ist die Wur­zel aus­gestorben.

Deutsch bleiben

Die Bedeutung übrig bleiben/lassen findet sich auch in deutsch bleiben aus be∙līben und goti­schen Ver­ben an­derer Bil­dungs­art.

Bleiben ent­steht nur im Deut­schen (und vielleicht noch im Go­tisch) und wird stark nach der ersten Ab­laut­reiheStarke Verben der ersten Ablautreihe gebeugt: ich bleibe, ich blieb, ich bin ge­blie­ben.

Deutsch leben

Älter ist das Verbum leben aus ger­ma­nisch lib∙ē∙. lib∙ē∙ aus vor­ger­ma­nisch lip∙h₁é∙; weil das Suf­fix be­tont ist, schwin­det e in der Wur­zel. Ab­lei­tun­gen mit dem Suf­fix ∙ē sind Es­siva (sta­tisch-du­ra­ti­ve Ver­ben), das heißt Ver­ben, die einen Zu­stand be­schrei­ben.Die Ableitungsarten für schwache Verben werden im Tutorial zu starken und schwachen Verben erklärt.

Dazu ge­hören auch (in alt­hoch­deut­scher Lau­tung) dar­bēn, kle­bēn, fol­gēn, sor­gēn, han­gēn.

Grammatischer Wechsel ∙b∙ versus ∙f∙

Die in diesem Artikel gezeigten Formen mit ∙b∙ und ∙f∙ stehen in Gram­mati­schen Wech­selExterner Link zu Wikipedia: Grammatischen Wechsel zu­einan­der.

Im Deutschen wird seit jeher einheitlich mit ∙b∙ gebeugt: ih lebēm, du lebēs, er/si lebēt usw. Im Eng­lischen fin­den sich in alt­eng­lischer Zeit zwei Vari­anten:

Die f-Formen setzen sich im Über­gang zum Mit­tel­eng­lischen durch und füh­ren zu mit­tel­eng­lisch lĭven und neu­eng­lisch to live. Im Nor­di­schen haben sich schon vor­litera­risch allein die f-For­men durch­gesetzt: is­län­disch lifa, ég lifi, þú lifir, hann/hún lifir, schwe­disch leva, jag/du/han/hon lever. Im Deut­schen hat sich um­gekehrt nur ∙b∙ durch­gesetzt: leben, ich lebe, du lebst, er/sie lebt. Ebenso im Goti­schen: liban: ik liba, þu libais, is/si libaiþ.