Fluchtartig und reflexartig
Der größte Feind guter Prosa sind Alltagsfloskeln. Wer zwanghaft von fluchartigem Verlassen statt von Flucht spricht, hört sich selbst nicht zu und hat das Wesen der Metapher nicht verstanden.
Fluchtartiges Verlassen und Fliehen
Der größte Feind guter Prosa sind Sprichwörter, Redensarten und Alltagsfloskeln:
Er (der Kommissar) nickte, und sie griff nach der Kaffeekanne. Als sie ihm nachschenkte, beugte sie sich soweit vor, dass ihre üppigen Brüste beinahe aus dem Morgenmantel fielen. Diese Prozedur wiederholte sich so oft, bis Rath das System dahinter erkannte. Bei jedem Nachschenken kam sie ihm näher, öffnete sie ihm großzügige Einblick in ihr Dekolleté. Als schließlich beim Einschenken auch noch zwei, drei Tropfen Kaffee auf seinen Schoß spritzte und mit der Serviette auf seiner Hose herumzureiben begann, reichte es ihm. Fluchtartig verließ er diese gastliche Wohnung und rannte die Treppe hinunter.
Volker Kutscher: Der nasse Fisch
Klingt insgesamt sehr wie von einem Servicejournalisten geschrieben. Es geht hier aber nur um den letzten Satz. Wenn das ein fluchtartiges Verlassen
ist, was ist dann eine Flucht?
Was muß einem drohen, daß man einen Ort nicht nur fluchtartig verläßt
, sondern flieht
? Die vorrückende Rote Arme, ein Schwarm Vampire, ein Tsunami?
Machen wir es kurz: Das fluchtartige Verlassen ist eine Alltagsfloskel, die in guter Prosa nichts zu suchen hat. Sie ist immer durch fliehen zu ersetzen.
Reflexartig und nervös
Das gilt für alle Wortbildungen auf ∙artig
. Sie sind allesamt verkorkste Konstruktionen aus der Feder von Menschen, die beim Schreiben kein zweites Mal überlegen.
Reflexartig schaute Jürgen Klopp auf seine Armbanduhr. In der zweiten Minute der Nachspielzeit starrte der 44-Jährige auf sein Handgelenk und schüttelte dabei sekundenlang den Kopf.
Spiegel OnlineExterner Link zum Artikel bei Spiegel Online
Dem 80-Kilo-Schweren, Blauäugigen und Dreitagebärtigen geht es also um Sekunden. Ein gebildeterer Verfasser könnte unter drei Möglichkeiten wählen:
- Ding: Jürgen Klopp schaute (immer wieder/nervös) auf seine Armbanduhr.
- Metapher: Aus Reflex schaute Jürgen Klopp auf seine Armbanduhr.
- Vergleich: Wie aus Reflex schaute Jürgen Klopp schaute auf seine Armbanduhr.
Der Autor von Spiegel Online wird dagegen vielleicht Einwände vorbringen: Der Vergleich wie aus Reflex
sei ja wohl nichts anderes als reflexartig
. Und die Metapher aus Reflex
sei sachlich falsch. Reflexe seien die unwillkürliche, rasche und gleichartige Reaktion eines Organismus auf einen bestimmten Reiz (Wikipedia). Bei Kloppo gingen dem Schauen aber komplexe Vorgänge im Gehirn voraus.
Das ist wohl wahr, aber unerheblich. Denn alle Metaphern sind sachlich unrichtig, das heißt nicht das Ding, was sie als Bild beschreiben sollen. Wir alle wissen, daß es sich beim Schauen auf die Uhr nicht um einen Reflex handeln kann, wie ihn die Biologie definiert. Es gibt keine Möglichkeit, die Metapher zu verkennen.
Nur wer das Wesen der MetapherTutorial: Metapher nicht verstanden hat, kann an ihrem Wesen zweifeln und pseudoakkurate Konstruktionen wie die Reflexartigkeit ersinnen. Nur wer seit langem funktionierende Regeln nie richtig durchdrungen hat, hält sie für unzureichend und glaubt, er müßte bessere erfinden.
Das sind die Zeichen eines Charakters, der immer nur die Welt, aber nie sich selbst in Frage stellt. Entwicklung ist darin natürlich ausgeschlossen, es wird bloß der Zwang immer zwingender.
All my life I’ve looked at words as though I were seeing them for the first time.
Mein ganzes Leben lang habe ich Wörter angesehen, als würde ich sie zum ersten Mal erblicken.
Ernest Hemingway: Selected Letters 1917—1961. Herausgegeben von Carlos Baker. New York 1981.
Vielleicht sollte man an dieser Stelle noch erwähnen, daß Hemingway jede Szene nicht einmal, sondern mindestens dreißig Mal geschrieben hat. Dann durfte diese Szene erst einmal stehenbleiben, bis die Erstfassung abgeschlossen war und die hundertfache Überarbeitung begann. So sehen die Voraussetzungen für hervorragende Texte aus.
Auch der erste Einwand stimmt nicht. Wie aus Reflex
ist etwas anderes als reflexartig
. Dieses behauptet, das Schauen auf die Uhr wäre von der Art eines Reflexes, und zwar wie in der Biologie definiert. Aber Nervosität macht eine Handlung nicht zu etwas, was einem Reflex gleichkommt. Nervosität ist nicht von der Art eines Reflexes. Es hätte am besten geheißen:
- Nervös schaute Jürgen Klopp auf seine Armbanduhr.
Denn was Jürgen Klopp da macht, ist genau das, was nervös in der Allgemeinsprache ausdrückt. Es besteht keine Not, die Nervosität neu zu erfinden. Das reflexartige Verwenden von gebetsmühlenartig
sparen wir uns!