Konjunktiv: Optativ und Potentialis

konjunktiv Dieses Tutorial schließt das Thema Konjunktiv ab, indem gängige Mißverständnisse über den Konjunktiv ausgeräumt werden. Es geht um Funktionen, die dem Konjunktiv irrtümlich zugeschrieben werden: 1. Der deutsche Konjunktiv kann weder Wünsche (Optativ oder Voluntativ) noch Aufforderungen (Adhortativ, Exhortativ) ausdrücken. 2. Der Konjunktiv drückt keine Möglichkeit aus (Potentialis). Deshalb ist auch der deutsche Begriff der Möglichkeitsform unzutreffend.
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Video veröffentlicht am 23.10.2010 (55.33 MB).

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Der Konjunktiv als Möglichkeitsform oder Wunschform?

Der deut­schen Konjunktiv wird oft auch Möglichkeitsform genannt.

Vielen Gram­mati­ken nach soll er nicht nur Möglichkeit (Poten­ti­alis) zum­Ausdruck bringen, son­dern sogar Wünsche (Optativ, Voluntativ), Auf­for­de­run­gen (Ad­hor­ta­tiv) oder Be­feh­le (Iussiv).

Das ist jedoch ein Miß­ver­ständ­nis: Keine dieser Funk­tionen kann im Deut­schen mit dem Kon­junk­tiv aus­gedrückt wer­den.

Die beiden Kon­junk­tivformen sei und wäre haben im heutigen Deutsch nur jeweils eine einzige pro­duk­tive Funktion:

Der Konjunktiv
als Möglichkeitsform

In vielen Gram­matik­büchern wird der Kon­junk­tiv als Mög­lich­keits­form beschrieben. Wir wählen als Beispiel, das sich durch seine Kürze auszeichnet, die gro­ßen Deutsch­gramma­tik von Pons:

Mit dem Kon­junk­tiv verschieben wir Vorgänge und Hand­lun­gen in den Be­reich des Mög­lichen, der Wün­sche, der Nicht­wirk­lich­keit, des Hören­sagens und der in­direk­ten Rede. Er wird des­halb auch Mög­lich­keits­form ge­nannt.

Ines Balcik, Klaus Röhe, Verena Wröbel: Die große Grammatik. Deutsch. Pons, Stuttgart 2009. Seite 289. Externer Link zur Buchpräsentation bei Pons

Wie der Kon­junk­tiv aus einer Tatsache eine Mög­lich­keit macht, wird gleich darauf durch die­ses Bei­spiel gezeigt:

Es könnte sein, dass er Recht hat. (Aber ich weiß es nicht. Es ist nur eine Mög­lich­keit.)

ebd.

Tat­säch­lich drückt die­ser Satz eine Mög­lich­keit aus. Um zu über­prü­fen, ob dies durch den Kon­junk­tiv ver­ur­sacht wird, neh­men wir den Kon­junk­tiv ein­mal her­aus:

Es kann sein, dass er Recht hat.

Zu unserem Erstaunen hat sich der Gehalt des Satzes über­haupt nicht ver­än­dert. Die Mög­lich­keit wird an­schei­nend al­lein durch das Verb können herbei­geführt. Wir über­prü­fen dies, in­dem wir das Verb strei­chen und statt­dessen wie­der den Kon­junk­tiv ein­set­zen:

Es wäre, dass er Recht hat.

Das Resultat ist ein ungültiger deut­scher Satz. Das läßt nur eine Folge­rung zu: Der Kon­junk­tiv ist keine Mög­lich­keits­form. Er kann aus einer Tat­sache keine Mög­lich­keit machen. Das heißt auch, daß der Kon­junk­tiv im Bei­spielsatz aus einem ganz an­de­ren Grund ste­hen muß.

Danach folgt die­se Behauptung:

Der Kon­junk­tiv 1 wird vor allem für die indirekte Rede ver­wen­det, der Kon­junk­tiv 2 wird generell zur Dar­stel­lung der Un­wirk­lich­keit, Unmög­lichkeit benutzt.

ebd.

Unser Bei­spiel enthielt einen Kon­junk­tiv 2 könnte. Wenn der aber ge­ne­rell Un­wirk­liches und Unmög­liches darstellen soll, wie kann er dann im Bei­spiel eine Mög­lich­keit aus­drücken, wo unmög­lich und mög­lich unvereinbare Ge­gen­sät­ze sind?

Es gibt noch ein zweites Bei­spiel. Das steht im Kon­junk­tiv 1, ohne daß wir er­fah­ren, warum beim er­sten Bei­spiel die Mög­lich­keit durch den Kon­junk­tiv 2 aus­gedrückt wurde und dies­mal der Kon­junk­tiv 1:

Man sagt, er habe sich von ihr getrennt. (Aber wir wissen es nicht genau.)

ebd.

Auch hier läßt sich die ganze Idee mit unserem ein­fachen Test wi­der­legen:

Man sagt, er hat sich von ihr getrennt.
Er habe sich von ihr getrennt.

Tat­säch­lich drückt der Kon­junk­tiv 1 nie­mals aus, daß man etwas nicht genau weiß. Er kenn­zeich­net den Satz bloß als den In­halt einer Aus­sage (inner­liche oder in­halt­liche Ab­hän­gig­keit). Ob die­se Aus­sage wahr, mög­lich oder un­wahr ist, darüber sagt der Kon­junk­tiv 1 nichts.

Doch wie drückt man im Deutschen eine Mög­lich­keit (gram­ma­ti­ka­lisch Po­ten­ti­alis genannt) aus? Allein durch lexi­kali­sche Wen­dun­gen, also durch Modal­ver­ben oder Ad­ver­bien. Zum Bei­spiel:

  • Er kommt viel­leicht.
  • Er kommt wohl.
  • Er kommt bestimmt.
  • Er kommt mög­licherweise.
  • Er kommt anscheinend.
  • Er scheint zu kommen.
  • Es scheint, daß er kommt.
  • Es sieht so aus, daß er kommt.
  • Er sollte (eigentlich) kommen.
  • Er wird wohl kommen.
  • Er kann noch kommen.

Auch der Kon­junk­tiv 2 wie beim aller­ersten Bei­spiel kann keine Mög­lich­keit aus­drücken, obwohl dies dauernd behauptet wird. Zum Bei­spiel bei Wiki­pedia. Dort be­ginnt der Ein­trag über den Kon­junk­tiv so:

Der Kon­junk­tiv wird für die Darstellung einer Mög­lich­keit be­nutzt und daher auch als Mög­lich­keits­form bezeichnet.

WikipediaExterner Link zur Buchpräsentation bei Pons

Interessanterweise folgt die­ser Einführung dann aber im ganzen Artikel nichts, was ent­fernt mit Mög­lich­keit zu tun hätte. Zum Glück, denn der Artikel hebt sich positiv von an­de­ren Pub­lika­tio­nen ab und bringt, was der Kon­junk­tiv tat­säch­lich tut. Allenfalls die­ser win­zige Ab­schnitt ist zwei­fel­haft for­mu­liert:

Zögern, Zweifel bei einer Frage, Vermutung oder Feststellung:
Wäre so etwas denkbar?
Sie könnte schon in den Ur­laub ge­fah­ren sein.

WikipediaExterner Link zur Buchpräsentation bei Pons

Der Kon­junk­tiv 2 drückt hier keine Zweifel oder eine Vermutung aus. Das tun die Bei­spiel­sätze näm­lich auch ohne den Kon­junk­tiv:

Ist (denn) so etwas denkbar?
Sie kann (natürlich) schon in den Urlaub gefahren sein.

Einige germanistische Abhandlungen behaupten sogar, der Kon­junk­tiv 2 könnte sowohl den Irrealis (Un­wirk­lich­keit und Unmög­lichkeit), als auch den Po­ten­ti­alis (Mög­lich­keit) aus­drücken. Diese beiden Aus­sagemodi sind jedoch un­ver­ein­bare Ge­gen­sät­ze. Stel­len Sie sich vor, sie kom­men mit dem Auto an ein Stopschild … und das Stop­schild könn­te ein­mal be­deu­ten, Sie sol­len an­hal­ten, und ein ander­mal, sie sol­len wei­terfahren, ohne daß das Zeichen Ihnen ver­rät, was es diesmal be­deu­tet.

Wie Verkehrszeichen sind auch sprachliche Zeichen ein­deu­tig und nie­mals wider­sprüch­lich. Der Kon­junk­tiv 2 be­deu­tet als sprach­liches Zei­chen immer nur Un­wirk­lich­keit. Im All­tag oder alltags­ähn­licher Spra­che be­nutzt man ihn gern, um etwas Wirk­liches oder Wahr­schein­liches als un­wahr­schein­lich oder unmög­lich aus­zu­drücken. Die­ser deut­liche Wi­der­spruch zeigt dem Hö­rer, daß man sei­ne Ein­schät­zung spon­tan tref­fen muß und nichts gewiß ist. Beim Kon­junk­tiv der Höflichkeit drückt man eine Bitte als Unmög­lichkeit aus, um sein Gegen­über nicht vor voll­endete Tat­sachen zu stellen.

Nach dem gleichen Prinzip wird in ei­ni­gen Spra­chen eine Bit­te ne­ga­tiv for­mu­liert, ob­wohl sich der Spre­cher ja das Gegen­teil wünscht:

Sie haben nicht zufällig Feuer?

Oder: Der Portier stellt dem Hotel­gast den Koffer in den Kof­fer­raum. Obwohl er zur Hälfte her­aus­ragt und sich die Klappe nicht schlie­ßen läßt, sagt der Por­tier nicht: Der Kof­fer ist viel zu groß, den krie­gen Sie nie­mals da rein. Er sagt viel­mehr: Der Kof­fer ist fast ein biß­chen zu groß, obwohl der Kof­fer dop­pelt so groß wie der Kof­fer­raum ist.

Der Konjunktiv als Wunschform: Optativ, Voluntativ, Kupitiv

An an­de­rer Stelle soll der Kon­junk­tiv Wünsche, Auf­for­de­rungen oder Be­feh­le aus­drücken können, ohne daß dem Leser erklärt wird, wie man beim Hören oder Lesen die­ser Sätze er­ken­nen soll, mit wel­cher der an­ge­blich so vielen Funk­tionen des Kon­junk­tiv er es zu tun hat. In der Grammatik sind hier die Be­grif­fe Opta­tiv, Volun­tativ oder Kupi­tiv in Ge­brauch.
Opta­tiv be­zieht sich dabei eher auf die gram­ma­ti­ka­li­sche Form, die bei­den ande­ren auf spe­ziel­le Be­deu­tun­gen eines Mo­dus.

Mit dem Kon­junk­tiv Prä­sens können Wünsche oder Aus­rufe for­muliert wer­den. Er kommt auch in ei­ni­gen festen Rede­wen­dun­gen vor:
Sei gegrüßt! Sie lebe hoch! (Aus­ruf)
Er ruhe in Frieden. (Wunsch)
Komme, was da wolle. Es sei denn, dass … (Redewendung)

a.a.O., Seite 298

Beginnen wir mit dem ersten Bei­spiel:

Sei gegrüßt! (Aus­ruf)

Konjugieren wir ein­mal den Kon­junk­tiv 1 von sein:

Konjunktiv 1 von sein
ichsei
du seiest
ersei
wirseien
ihrseiet
sieseien

Der Kon­junk­tiv 1 der zweiten Per­son lautet also immer du seiest, und das seit jeher und ohne Ausnahme. Sei! ist der Im­pera­tiv. Dieses Bei­spiel ist also falsch. Zum zweiten Bei­spiel:

Sie lebe hoch! (Aus­ruf)

Mit Aus­rufen hat der Kon­junk­tiv gar nichts zu tun. Er soll hier einen Wunsch aus­drücken. Und tat­säch­lich: Nimmt man den Kon­junk­tiv fort, ver­schin­det auch der Wunsch:

Sie lebt hoch.

Dasselbe gilt für das drit­te Bei­spiel:

Er ruhe in Frieden. ≠ Er ruht in Frieden.

Gemeinsam haben die­se beiden Bei­spie­le, daß sie in der drit­ten Per­son Sin­gu­lar ste­hen. Das ist kein Zufall, denn hier las­sen sich In­di­ka­tiv und Kon­junk­tiv durch die En­dung bei allen Ver­ben un­ter­schei­den: er geh∙t ver­sus daß er geh∙e.

In allen anderen Personen ist dieser Konjunktiv al­ler­dings ganz und gar un­mög­lich, und auch in der drit­ten Per­son Sin­gu­lar ist er nicht mehr pro­duk­tiv. Produktiv be­deu­tet, daß man den Kon­junk­tiv nicht mehr be­nut­zen kann, um einen Wunsch an die drit­te Per­son aus­zu­drücken. Hält sich ein Ausländer beim Deutschlernen an das, was die Grammatik von Pons und an­de­ren ihnen emp­feh­len, bringt er also lauter ungültige Sätze her­vor.

Dies ist nicht erst seit gestern so, son­dern bei der drit­ten Per­son Sin­gu­lar seit etwas über einem halben Jahr­tau­send, bei den an­de­ren Per­sonen sogar doppelt so lang. Seit einem Jahr­tau­send kann der Kon­junk­tiv Prä­sens ich sei im Haupt­satz keine Wünsche oder Mög­lich­keit mehr aus­drücken, ja, er kann über­haupt nicht mehr im Haupt­satz ver­wen­det wer­den, wenn er nicht inner­lich ab­hän­gig auf einen Aus­druck des Sa­gens oder Den­kens im vor­an­ge­gan­ge­nen Satz folgt und da­durch bereits vor­her an­ge­kündigt wird:

Der Minister sagte, das sei (Gliedsatz) alles Quatsch. Außer­dem müsse (Haupt­satz) er jetzt zum Golf.

Ein Jahr­tau­send, das sind zehn Jahrhunderte. Ist es nicht erstaunlich, daß der Kon­junk­tiv in Grammatiken immer noch als Modus der Mög­lich­keit und des Wunsches bezeichnet wird? Ein schönes Bei­spiel dafür, daß man nicht irgendwo abschreiben soll, was man nicht versteht.

Nun zu den verbleibenden Bei­spie­len:

Komme, was da wolle. Es sei denn, dass … (Redewendung)

Beide Sätze sol­len Bei­spie­le für den Kon­junk­tiv des Wunsches sein, tat­säch­lich äußern sie eine Mög­lich­keit und hät­ten des­halb ins an­de­re Ka­pi­tel zum Po­ten­ti­alis gehört. Man wünscht sich ja nicht, daß etwas kommt, son­dern zeigt sich ge­wapp­net gegen alles, was da even­tuell kommt.

Eben­so beim zwei­ten Satz: Es sei denn er­örtert auf alte Weise, daß es viel­leicht auch anders sein könnte. Wün­schen tut man sich das nicht.

Auch die­se Sätze sind Haupt­sät­ze. Dort kann sich der alte Kon­junk­tiv nur in der drit­ten Person in Rede­wen­dun­gen halten. Denn:

  • Er lebe hoch! Aus lateinisch Vivat!
  • Er ruhe in Frieden! Aus lateinisch Requiescat in pace!
  • Komme, was da wolle! Wie französisch Advienne que pourra!

All die­se Bei­spie­le sind Relikte aus einer fernen Vergan­ge­nheit und er­starr­te Wen­dun­gen. Auch im Fran­zösi­schen und im Eng­li­schen sind alte Op­ta­tiv­for­men als Re­likt er­hal­ten:
Vive la France!
God save the Queen!
Wer heute als Ab­tei­lungs­leiter sagt:

Frau Müller gehe bitte Büroklammern kaufen!

Der wird für eine schlechte Kopie von Ludwig dem Zweiten gehalten. Man sagt selbst nicht mehr:

Frau Müller möge bitte Büroklammern kaufen gehen!

Sondern:

  • Frau Müller, gehen Sie bitte …
  • Bitte schicken Sie Fräu Müller …
  • Frau Müller soll bitte …

Eventuell nimmt man auch wieder den Konjunktiv 2 der Alltagssprache: Dieser Konjunktiv darf nicht als Wunsch­form miß­deu­tet wer­den. Der Kon­junk­tiv 2 konn­te zu kei­ner Zeit Wün­sche äu­ßern. Wo er sonst in Wün­schen auf­tritt, macht er den Wunsch nur un­er­füll­bar, aber er er­zeugt den Wunsch nicht.

  • Frau Müller möchte bitte …

Nur im Rezeptdeutsch kommt der Kon­junk­tiv des Wunsches und der Auf­for­de­rung noch als feste Wen­dung und deut­liches Er­ken­nungs­zei­chen für eine Hand­lungs­anwei­sung vor:

Man nehme drei Eier, einen Sack Mehr und einen Liter Milch und ver­rühre alles zu einer klumpigen Masse.

Das ist aber nur noch in Kochrezepten einigermaßen üblich; Ärzte und Apo­theker ver­stän­di­gen sich auf latei­nisch und ver­wen­den den Im­pera­tiv an die zwei­te Per­son: Recipe. (Rp.). Heut­zu­tage wird der Leser eines Koch­buchs eher direkt in der zwei­ten Per­son an­ge­sprochen. Hier ist der Kon­junk­tiv seit jeher ganz und gar un­mög­lich. Des­wegen heißt es im Im­pera­tiv:

Rühren Sie jetzt das Eiweiß unter.

Tat­säch­lich ist die­ser heutige Im­pera­tiv der Sie-Form der alte Kon­junk­tiv 1 der drit­ten Per­son Plural. Er kommt heute oft vor. Das ist aber nur mög­lich, weil er durch das nachgestellte Sie deutlich vom In­di­ka­tiv zu un­ter­schei­den ist.

Ursprung und Geschichte des Konjunktivs

Warum konnte der Konjunktiv früher Möglichkeit, Wunsch und Auf­for­de­rung aus­drücken. Warum kann er es heute nicht mehr?

Der Konjunktiv in vordeutscher Zeit

Der deutsche Konjunktiv ist sprachgeschichtlich nicht mit dem la­tei­ni­schen Kon­junk­tiv verwandt, dafür aber mit dem Op­ta­tiv im Alt­grie­chi­sche. Sie ent­stam­men einem ur­indo­germani­schen Ver­bal­modus, der durch das Suf­fix ∙ih₁ (unbetont) oder ∙iéh₁ (betont) ge­bil­det wur­de und einen astreinen Po­ten­ti­alis be­schreibt. Aus er geht wird durch An­hän­gen die­ses Suf­fixes er geht wohl oder er geht mög­licher­weise (Po­ten­ti­alis). Der Spre­cher A hält es also für mög­lich, daß B geht. Hier­von ist es nur ein Kat­zen­sprung zu ich erwarte, daß er geht im for­dern­den Sinne, und ein wei­terer zu er soll gehen! (Op­ta­tiv). Das i in die­sem Suf­fix ist es, was später im Alt­hoch­deut­schen beim Kon­junk­tiv Prä­teri­ti der star­ken Ver­ben den Umlaut ver­ursachen wird: ich hatte → als ob ich hätte.
Im Kon­junk­tiv Prä­sens vermischt sich das i mit dem vor­aus­gehen­den Thema­vokal a zu ∙ai, woraus e wird, das kei­nen Umlaut ver­ursacht. Deshalb: daß ich habe.

So erklärt sich, warum der deutsche Konjunktiv noch im Alt­hoch­deut­schen sowohl Mög­lich­keit als auch Wunsch aus­drücken konnte. Ebenso im Grie­chi­schenTutorial: Einführung in die griechische Schrift: Hier bezeichnet der Op­ta­tiv (Prä­sens) mit der Partikel ἄν án den Po­ten­ti­alis in Haupsätzen:

Ὁ φίλος ἂν ἤκοι.

Ho phílos àn hékoi.

Der Freund wird wohl/könnte/dürfte kommen.

Wünsche kann der Op­ta­tiv (Aorist oder seltener Prä­sens oder Perfekt) auch aus­drücken. Oft, aber nicht immer steht eine Partikel wie εἴθε eithe.

(Εἴθε) ὑγιής γένοιο.

(Eíthe) hygiès genoio.

Mögest du gesund wer­den.

Der lateinische Konjunktiv hat dagegen einen an­de­ren Ursprung. Er ist mit dem grie­chi­schen Kon­junk­tiv verwandt und geht auf das ur­indo­ger­mani­sche Suf­fix ∙ē — siehe lateinisch amat (In­di­ka­tiv) → amet (Kon­junk­tiv) — oder ∙ō — siehe la­tei­nisch vivit (In­di­ka­tiv) → vivat (Kon­junk­tiv) — zurück.

Dieses Suffix drückt nicht die Möglichkeit aus, son­dern eine Er­war­tung an die Zu­kunft: Er wird gehen. Der Spre­cher A er­war­tet also, daß B gehen wird. Aus die­sem Grund kennt das La­tei­ni­sche kei­nen Kon­junk­tiv des Futurs, denn der würde das­selbe doppelt aus­drücken. Die­ses Suf­fix ist in sei­ner Be­deu­tung sehr nahe dem an­de­ren. Auch hier wird aus ich erwarte, daß er geht leicht das Erwägen einer Mög­lich­keit oder die For­de­rung er soll gehen! (Op­ta­tiv).

Das Deutsche und das Lateinische haben des­halb die beiden Modi zu einem ver­eint (mit jeweils an­de­rem Suf­fix), das Grie­chi­sche hat dagegen beide Suf­fixe als eigen­stän­dige Modi er­hal­ten. Der grie­chische Kon­junk­tiv hat tat­säch­lich viel Zukünftiges in sich, der Op­ta­tiv nicht.

Der Kon­junk­tiv im frühen Deutsch

Im Althochdeutschen drückt der Konjunktiv im Haupt­satz wie der ver­wand­te grie­chi­sche Op­ta­tiv so­wohl Mög­lich­keit als auch Wunsch oder Auf­for­de­rung aus. Jedoch nur in der ersten und drit­ten Per­son. In der zwei­ten Per­son wird wie heute stets der Im­pera­tiv ver­wen­det. Nur im Prohibitiv, also im Im­pera­tiv des Verbots, greift man zum Kon­junk­tiv:

  • Ni slehēs!
    Du sollst nicht töten!
  • Ni huorōs!
    Du sollst nicht ehebrechen!

Wörtlich also: Nicht ehebrechest du! Das Alt­hoch­deut­sche kann dies machen, weil zu sei­ner Zeit der In­di­ka­tiv noch leicht vom Kon­junk­tiv Prä­sens zu un­ter­schei­den ist. Nehmen wir das Verbum suochen su­chen:

In diesen Zeiten, die mit dem Mittelalter oder spätestens der frühen Neuzeit endeten, drückte der Konjunktiv tatsächlich Wünsche aus. Darin lag sogar seine ursprüngliche Funktion, und die innerliche Abhängigkeit, heute die einzige Funktion, war damals nur ein Spezialfall im Nebensatz, die in der Neuzeit an Bedeutung gewann. Zugleich ging die Funktion des Wünschens im Hauptsatz ein, weil die Endungen von Indikativ und Konjunktiv verblassten und schließlich gleich klangen: Wo der Indikativ einst ich suochu und der Konjunktiv ich suoche lautete, heißt es heute in beiden Formen ich suche.

Der Konjunktiv im heutigen Deutsch

Von diesem Moment an ist der Konjunktiv Präsens (= Kon­junk­tiv 1) im Haupt­satz tot. Damit endet auch sogleich die Mög­lich­keit, Mög­lich­keit oder Wunsch durch den Kon­junk­tiv Prä­sens aus­zu­drücken. Denn stößt man als Leser oder Hörer auf so einen Haupt­satz, wird man die Verb­form grund­sätzlich als In­di­ka­tiv deu­ten.

Um Wunsch oder Möglichkeit auszudrücken, greift man nun zu Wen­dun­gen mit Modal­ver­ben. Die kennt das Deut­sche seit frühe­ster Zeit. Ur­sprüng­lich ver­wen­dete man müs­sen. Seit­dem das sei­ne heu­tige Be­deu­tung an­ge­nom­men hat, ver­wen­det man mögen:

Möge ich gesund bleiben!

Möge sie gesund wer­den!

In der zweiten Person verwendet man nach wie vor den Im­pera­tiv Komm! oder an­de­re Wendungen Du sollst kommen! Komm schon! Komm jetzt! Bitte komm!

Der im Althochdeutschen durchaus noch gebräuchliche Konjunktiv des Wunsches für die erste Per­son stirbt sofort. In der drit­ten Sin­gu­lar kann er sich halten, weil der Kon­junk­tiv 1 dort gut zu er­ken­nen ist. Die festen Rede­wen­dun­gen wie es sei denn oder es komme, was wolle, die das Deut­sche heute noch kennt, stam­men alle aus die­ser Phase, wo man den Kon­junk­tiv der drit­ten Per­son noch eine Weile im Haupt­satz gebraucht hat.

Konjunktiv wird Imperativ

Der Konjunktiv der dritten Person Singular ist jedoch iso­liert. Weil man den Kon­junk­tiv im Haupt­satz sonst nicht mehr kennt, gerät diese Form im frü­hen Neu­hoch­deut­schen ins Im­pera­tiv­para­digma, die bis­lang keine Form für die drit­te Per­son kannte:

Neuhochdeutscher Imperativ
  Imperativ
(ich)
(du) nimm!
man nehme!
(wir) nehmen wir!
(ihr) nehmt!
(sie) nehmen Sie!

Interessanterweise hat der Im­pera­tiv der Du-Form Video-Tutorial: Der Imperativ seitdem die Endung ∙e für alle Verben generalisiert, wenn der Im­pera­tiv kei­nen Umlaut hat (sterbenstirb!), denn auch die neue Form der drit­ten Per­son hat sie. Da­vor waren die En­dun­gen des Im­pera­tivs noch anders geregelt.

Dieser Konjunktiv im Hauptsatz darf also heute nicht mehr als Kon­junk­tivform an­ge­sehen wer­den, weil er das im Sprach­zen­trum der Neu­hoch­deutsch­sprecher nicht mehr sein kann.